Talai 1-19 Tochter des Morgensterns

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Tochter des Morgensterns

Numesh kontrolliert, ob seine Ausrüstung vollständig ist. Es ist erst zwei Tage her, seit er und Marish nach Penira zurückkehrten. Eigentlich sollte er froh sein, dass er sich von der anstrengenden Reise mitten im Winter erholen kann. Stattdessen bereitet er sich auf einen weiteren langen Ritt vor. Er ist unendlich erleichtert darüber, dass der Heerführer Liha sein Angebot annahm, bei der Suche nach der Prinzessin zu helfen. Er versteht zwar nicht, weshalb der Drache von Kelèn so unverrückbar der Meinung ist, dass Talai noch lebt. Manche Krieger behaupten, er schicke diesen Suchtrupp nur los, um der Königin einen Gefallen zu tun. Aber Numesh weiß, dass Liha so etwas niemals ohne triftigen Grund tun würde.
Endlich ist er überzeugt, dass er alles Notwendige eingepackt hat, und schwingt sich die Satteltasche über die Schulter. Die anderen Krieger des Suchtrupps warten schon im Hof. Marish steht neben seinem Pferd und unterhält sich leise mit Liha und Berim. Numesh gesellt sich zu der Gruppe. Der Drache nickt ihm mit ernstem Gesicht zu.
«Ich weiß nicht, ob Hoffnung besteht, die Prinzessin zu finden. Wenn alles stimmt, was wir wissen, lebt sie zwar, ist aber weit von Penira entfernt oder beabsichtigt nicht, hierher zurückzukommen. Eure Aufgabe wird also nicht leicht sein. Ich erwarte von Euch, dass ihr nach Norden reitet, auf dem Weg, den Talai nehmen würde, wenn sie direkt vom Ort des Überfalls hierher zurückkehren würde. Ich weiß, dass ihr soeben auf diesem Weg angereist seid. Es ist nicht auszuschließen, dass ihr dabei die Prinzessin überholt habt. Immerhin war sie verwundet. Nehmt euch Zeit und hört euch in den Dörfern um. Wenn überhaupt Hoffnung besteht, Talai zu finden, habt ihr die besten Chancen. Wir werden andere Suchtrupps ausschicken, auf den weniger wahrscheinlichen Routen. Im Moment ist mir wichtig, dass wir ein Zeichen setzen, deshalb die Eile. Ich wünsche euch Glück.»
Numesh nickt und nimmt die Karte des Reiches entgegen, die Berim ihm reicht. Er blickt sich nach den Kriegern um, die ihn außer Marish begleiten sollen. Da ist sein alter Freund Silish, ein begabter Fährtenleser, den er von früher kennt. Er war mit dabei, als Numesh mit Liha ans nördliche Meer zog. Raill und Steim kennt er nur flüchtig, es sind erfahrene Männer und gute Freunde von Marish. Von den beiden wird erzählt, sie hätten den gefürchteten Miraipass im Winter zu Pferd bezwungen. Numesh kann sich kaum vorstellen, wie so etwas möglich ist. Auf jeden Fall werden diese beiden sich nicht beklagen, wenn sie durch etwas Schnee behindert werden. Alle drei Männer haben sich freiwillig für den Suchtrupp gemeldet. Numesh ist froh, dass er nicht mit einer Gruppe grüner Jungen losziehen muss. Er schwingt sich in den Sattel. Die Männer folgen seinem Beispiel schweigend. Liha legt ihm eine Hand auf den Oberschenkel.
«Hör zu, Numesh, du weißt aus eigener Erfahrung, dass es Dinge unter der Sonne gibt, die wir nicht erklären können. Wir wissen nicht, ob es eine Möglichkeit gibt, Talai zu finden. Sie lebt, soviel steht fest. Aber wenn stimmt, was ihr junger Bruder Kerim behauptet, kann es sein, dass sie nicht nach Penira zurückkommen will oder kann. In diesem Fall ist eure Suche zum Scheitern verurteilt. Deshalb bitte ich euch nur, zurück nach Inoira zu reiten und anschließend wieder hierher zurückzukehren. Möge das Glück euch diesmal begleiten.»

~ ~ ~

Mirim lenkt seinen schwarzen Hengst vorsichtig ins Bachbett hinunter. Es gibt hier keine Brücke, sondern nur eine flache Furt, die im Winter bei niedrigem Waserstand einfach zu überqueren sein sollte. Allerdings machen Eiskrusten die Ufersteine gefährlich rutschig und das Wasser ist sehr kalt. Es reicht dem Pferd zum Glück nur wenig über die Fesseln. Trotzdem ist Mirim froh, als er und sein Tier unbeschadet das andere Ufer erreichen. Er wendet sich im Sattel um und bedeutet Miràn, ihm zu folgen. Die junge Schattenwandlerin reitet die gutmütige braune Stute, die er in Himenar für sie kaufte. Sie bestand darauf, zu reiten, obwohl sie bisher keine Erfahrung mit Pferden besaß. Mirim wollte sie zuerst überzeugen, lieber einen Wagen zu benutzen. Aber im Nachhinein muss er eingestehen, dass ein Reitpferd die bessere Wahl war. Besonders jetzt, im Winter, sind viele der Wege in Atara schwer zu passieren. Statt eines Wagens wäre zeitweise ein Schlitten geeigneter.
Miràn scheint eine natürliche Begabung im Umgang mit Tieren zu besitzen. Ihre Haltung im Sattel war zwar zu Beginn etwas verkrampft. Inzwischen würde aber niemand mehr glauben, dass sie vor drei Tagen zum ersten Mal auf einem Pferd saß. Möglicherweise liegt das an ihren magischen Fähigkeiten. Mirim weiß bereits seit Kindertagen, dass seine Freundin eine Magierin ist. Trotzdem hält ihn etwas davon ab, sie darauf anzusprechen. Dabei ist sie sowohl ihm wie auch den Kriegern seiner Eskorte gegenüber stets freundlich und aufgeschlossen. Aber der Prinz hat leider die alte Vertrautheit mit seiner Freundin noch nicht wieder gefunden. Als Miràns Stute das Ufer erreicht, heißt sie das Pferd halten. Mit leuchtenden Augen sieht sie Mirim an.
«Einen Moment lang hatte ich wirklich Angst, ich würde ins Wasser fallen. Mir tun die Pferde leid, die ständig mit den Füßen im Wasser und im Schnee stehen.»
Der Prinz lacht. Vielleicht ist es noch nicht zu spät, die alte Freundschaft zu erneuern. Während die letzten Männer der Eskorte die Furt durchqueren, sorgt er dafür, dass er den nächsten Abschnitt des Weges neben Miràn reiten kann. Es wird höchste Zeit, dass sie einmal ungestört miteinander sprechen können.

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