Talai 3-3 Auf der Flucht

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Auf der Flucht

Widerwillig aber völlig erschöpft zieht sich Talai kurz nach Luoks Eintreffen für eine weitere Nacht in den Unterstand zurück. Sie findet die Beeinträchtigung durch ihre Krankheit besonders störend, weil ihre nachtaktiven Freunde sich gleichzeitig voller Tatendrang mit verschiedenen Aufgaben auf den Weg machen. Aber Talai muss zugeben, dass sie noch nicht gesund genug ist, um den Unterstand zu verlassen und einen Beitrag zu leisten. Das gefällt ihr nicht.
Ushin will durch die nähere Umgebung streifen, um sicher zu sein, dass ihnen nicht die Gefahr der Entdeckung droht. Das Kae besucht noch einmal seinen Artgenossen, in der Hoffnung, weitere brauchbare Informationen von ihm zu erhalten. Luok und He'sha schließlich machen sich auf die Suche nach Xylin, um sie zu bitten, Ashei vom Tod Senais zu benachrichtigen. Die Suche nach Talai ließen sie bereits vor zwei Nächten abbrechen. Alle gemeinsam wollen zudem nach einem geeigneten Versteck für Talai weiter entfernt von den menschlichen Wegen Ausschau halten.
Als die anderen weg sind und Talai sich neben der Feuerstelle in ihre Decke rollt, fühlt sie sich müde und einsam. Ob wirklich all ihre neuen Bekannten wieder zurückkommen? Beim Kae ist sie sich sicher, und auch Ushin vertraut sie vollkommen. Der Wolf versprach sogar, nach einer kurzen Runde direkt zum Versteck zu kommen. Dies obwohl sie behauptete, es mache ihr nichts aus, allein zu bleiben und sie sei schon fast gesund. Aber ihre heisere Stimme klang wohl nicht ganz überzeugend, und auch ein heftiger Hustenanfall half nicht dabei, ihren Gesundheitszustand in einem guten Licht darzustellen.
Nun starrt Talai ins Feuer und kann trotz ihrer Erschöpfung nicht einschlafen. Zuviel von dem, was heute Abend gesagt wurde, geht ihr noch durch den Kopf. Sie mochte Luok auf Anhieb, trotz ihrer schroffen Art und beängstigenden Erscheinung. Bei He'sha ist sie sich noch nicht sicher. Manchmal ist er ihr unheimlich, aber das mag daran liegen, dass er ein Magier ist. Talai seufzt und sucht eine bequemere Stellung. Es wäre angenehm, wieder einmal in einem Bett zu schlafen und ein heißes Bad zu nehmen. Sobald es ihr gut genug geht, will sie nach Tenar zurückkehren und sich dort bei der netten Wirtin einquartieren. Allerdings ist Ushin nicht begeistert von dieser Idee. Sie lächelt, als ihr sein entsetzter Gesichtsausdruck einfällt. Nun, der Wolf braucht ja nicht ins Dorf mitzukommen. Vielleicht hilft ihr He'sha, ihn zu überzeugen, dass Talai unter Menschen am besten aufgehoben ist. Zudem besteht nur unten im Tal die Hoffnung, Dánirah wiederzufinden.
Plötzlich fühlt sie sich sehr schläfrig. Sie nimmt sich fest vor, morgen mit allen zu sprechen, wenn es ihr weniger schwindlig ist und sie einen Gedanken länger als drei Atemzüge lang festhalten kann. Mit diesem vielversprechenden Entschluss ist sie auch schon eingeschlafen.

~ ~ ~

He'sha und Luok kehren enttäuscht kurz vor Morgengrauen zu Talais Versteck zurück. Die Xylin ließen sich die ganze Nacht lang nicht blicken und auch Nsilí konnten sie keine finden. Die Nachricht von Senais Tod wird deshalb noch warten müssen. Weder Luok noch He'sha sind bereit, Talai schon allein zu lassen. Am Abend ging es ihr zwar etwas besser, aber das ist wohl größtenteils auf He'shas Behandlung mit Schattenmagie zurückzuführen. Kräutertee allein hätte nie so schnell zu einer Genesung geführt. Er wird nun gut aufpassen müssen, dass die junge Frau sich nicht übernimmt und einen Rückfall erleidet, selbst wenn sie das einige weitere Tage kostet.
Luok landet geräuschlos auf dem kleinen ebenen Platz vor dem Unterstand. Ushin, der bereits vor dem Eingang wacht, hebt den Kopf.
‹Willkommen zurück.›
He'sha kann den Wolf durch Luoks Gedanken verstehen. Solange er über seine Schattenform mit der Hrankae in Verbindung steht, ist das einfach. Sobald er auf seine eigenen Sinne angewiesen ist, fällt es ihm schwer, die Gedankenstimme des Wolfes wahrzunehmen. Er antwortet deshalb, bevor er von Luoks Rücken gleitet.
«Hallo Ushin. Wie geht es ihr?»
‹Besser, glaube ich. Sie schläft tief. Manchmal scheint sie zu träumen, aber es ist nie so schlimm wie in den vergangenen Nächten.›
«Gut, Schlaf ist bestimmt das beste für sie. Ist das Kae schon zurück?»
‹Soeben angekommen. Es hat mit einigen weiteren Kaedin Kontakt gehabt, die tiefer in den Bergen wohnen. Sie behaupten, die Luft im Tal sei schlecht, deshalb seien sie in die Berge gezogen. Zumindest habe ich es so verstanden.›
He'sha kann sich nicht vorstellen, dass dies die Erklärung für das Rätsel der Krankheit ist. Das klingt irgendwie zu einfach. Luok schließt sich mit einem verächtlichen Schnauben seiner Meinung an und berichtet von ihren eigenen Bemühungen.
«Wir haben weder Xylin noch Nsilí gefunden. Aber etwas weiter in den Bergen gibt es einen Platz mit einigen halb verfallenen Hütten. Wir könnten Talai dorthin bringen. Es ist ein Wunder, dass noch niemand den Rauch bemerkt und uns hier besucht hat.»
He'sha und Ushin sind gleicher Meinung. Sie machen mit Luok ab, dass sie Talai überreden wollen, in das verlassene Dorf aufzusteigen, falls sie sich tagsüber gut genug fühlt. Nachdem Luok sich verabschiedet, um noch vor Tagesanbruch ihr Versteck aufzusuchen, setzt sich He'sha vor den Eingang des Unterstands. Ushin lässt sich neben ihm nieder. Gemeinsam beobachten sie, wie die aufgehende Sonne die Bergspitzen im Westen golden beleuchtet. Es wird ein schöner Tag. Ushin legt dem jungen Mann eine Pfote aufs Knie. Die direkte Verbindung ermöglicht es He'sha, die Gedankenstimme des Wolfs klar zu verstehen.
‹Talai will bestimmt lieber hinunter ins Tal, zurück zu den Menschen.›
He'sha versteht die Bedenken. Aber er ist nicht bereit, die junge Frau gleich wieder zu verlieren.
«Luok ist überzeugt, dass sie in einer Verbindung mit der Krankheit der Kaedin steht, vielleicht sogar diejenige ist, die helfen kann. Wenn sie zu den Menschen geht, kann ihr niemand von uns folgen.»
‹Das Kae wird bei ihr bleiben, so oder so. Aber besser wäre, sie würde mit uns zu Luoks verlassenem Dorf kommen.›
He'sha ist gleicher Meinung. Aber es wird bestimmt nicht einfach, Talai von der Notwendigkeit zu überzeugen.

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