Talai 2-11 Begegnung am Brunnen

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Begegnung am Brunnen

Mitternacht ist bereits vorbei, als Talai im Licht des Vollmonds den letzen Eimer aus dem Brunnen hievt. Er erscheint ihr besonders schwer und enthält eindeutig mehr Wasser als Sand. Sie kippt ihn auf den Haufen mit dem anderen Aushub. Als kurz darauf das Kae über den Brunnenrand klettert, wirkt es ziemlich erschöpft und rollt sich neben der Steineinfassung zu einer Kugel zusammen. Talai lehnt sich neben ihm an die Trockenmauer. Die karge, verschneite Landschaft wirkt im Vollmondlicht silbern und verzaubert. Aber sie nimmt sich nicht viel Zeit, diese magische Schönheit zu bewundern. Sie muss unbedingt etwas schlafen, bevor der Tag anbricht und damit der Moment, wieder aufzubrechen. Deshalb rappelt sie sich bald auf und kehrt zu ihrem beinahe herabgebrannten Feuer beim Windschutz zurück. Sie legt etwas Holz nach und wickelt sich in ihre Decke. Das Kae folgt ihr langsam und schlüpft zu ihr an die Wärme. Es füllt Talais Gedanken mit angenehmer Zufriedenheit über die erbrachte Leistung, bevor sie erschöpft in einen tiefen Schlaf fällt.

Kurz vor Morgengrauen schreckt Talai auf. Das Kae strahlt ein bedrohliches Bild aus, eine düstere Vision von schwarzen Flügeln und scharfen Zähnen. Ängstlich zieht Talai die Decke vom Gesicht und sieht sich um. Aber alles scheint ruhig. Der Mond hat seine Wanderung über den Himmel fast beendet und wird nun von silbernen Wolken umrahmt. Das Loch, durch das er hindurchscheint, wirkt fast wie das Tor in eine andere Welt. Das Feuer ist herabgebrannt, nur noch wenige Glutstücke geben etwas Wärme ab.
Talai richtet sich auf, um in die Nacht hinaus zu lauschen. Das Kae befreit sich aus den Falten der Decke und bewegt sich ein Stück von den letzten glühenden Kohlen des Feuers weg. Es ist immer noch beunruhigt und verbreitet das Angstgefühl, das Kaedin automatisch auszustrahlen scheinen, wenn sie durch etwas verunsichert sind. Talai ist froh, dass sie diesen Mechanismus inzwischen durchschaut und nicht mehr in unvermittelte Panik gerät, nur weil ihre kleine Dunkelheit etwas Unbekanntes wahrnimmt. Sie atmet mehrmals tief durch, um das unangenehme Angstgefühl zu verdrängen, das auf ihre Gedanken drückt. Das Kae beruhigt sich allmählich. Deshalb beschließt Talai, dass sie besser noch etwas die Augen schließt. Sie ist immer noch todmüde und fühlt sich von der ungewohnten nächtlichen Arbeit völlig zerschlagen. Im Osten zeigt der Himmel bereits einen hellen Streifen. Schon bald ist es Zeit, aufzustehen und weiterzuziehen.

~ ~ ~

He'sha beugt sich tief über Luoks Hals und späht in die Nacht hinaus. Es geht bereits gegen Morgen und sie benötigen dringend ein Versteck für den Tag. Wie alle Hrankaedí mag Luok das Tageslicht nicht und zieht einen dunklen Ort bei weitem vor. Ihre lichtempfindliche Haut würde einen Tag an der Sonne nicht ertragen.
Heute haben sie sich schlimm verrechnet, der starke Gegenwind verlangsamte ihren Flug und sie befinden sich noch weit entfernt von einer Gegend mit Höhlen. Den Beginn der Vollmondnacht verbrachten sie in der Schlucht von Ramenar, wo sie auf Einladung von Silmira die Anliegen der Königin der Nacht an der Versammlung der Nsilí von Nirah vertreten durften. Nur wenige Nicht-Mondlichter erhielten jemals die Erlaubnis, diesen geheimen Versammlungsort der Nsilí zu besuchen. He'sha ist immer noch überrascht, dass seine Mutter ihn mit solch wichtigen Aufträgen betraut, aber er will sich über ihr Vertrauen nicht beklagen. Sein Leben ist wesentlich aufregender, seit er mit Luok im Auftrag der Königin unterwegs ist.
Die Versammlung der Mondlichter dauerte länger als erwartet. Weder Luok noch er selbst wollten so unhöflich sein, mitten drin davonzufliegen. Mit Verspätung machten sie sich schließlich auf den Weg nach Atara, um noch einmal Dánan zu besuchen. Dabei überqueren sie einen kargen Landstrich, den weder er noch Luok kennen.
«Luok, wenn wir in dieser endlosen flachen Steinwüste nicht bald eine Höhle finden, wirst du unter meiner Decke den Tag verbringen müssen.»
Die Hrankae schnaubt verächtlich über seinen gezwungenen Humor. Beide wissen, dass die Zeit bis zum Morgengrauen inzwischen knapp wird. Aber Luok überrascht ihren Reiter einmal mehr.
«Ich könnte da drüben landen, wo genug Schnee liegt, dass du mir daraus eine Schneehöhle bauen kannst. Wie schnell denkst du, dass du das schaffst?»
«Es wäre einfacher, Schnee auf dich drauf zu schaufeln. Allerdings dürfte es morgen schön werden, die Sonne wird den Schnee im Lauf des Tages bestimmt wegschmelzen. Was machst du dann?»
«Ich verkrieche mich doch unter deiner Decke. Oder vielleicht suchen wir diesen alten Brunnen, von dem Silmira gesprochen hat. Er muss irgendwo auf dieser Ebene liegen.»
He'sha fragt sich, wie Luok besagten Brunnen finden will. Für ihn sieht die Hochebene völlig gleichförmig aus. Eigentlich ist es nur eine trockene Steinwüste, die im Moment von Schnee bedeckt ist. Von Dánan weiß er, dass sich diese öde Landschaft im Frühjahr, nach der Schneeschmelze, für eine kurze Weile in ein vielfarbiges Blumenmeer verwandelt, bevor die Dürre des Sommers wieder jedes Leben verunmöglicht. Aber davon ist jetzt nichts zu sehen. Es gibt keine Täler, keine Flüsse, nur Steine und Schnee.
Luok fliegt mit kräftigen Flügelschlägen zielstrebig weiter und He'sha ist froh, dass er in seiner Schattenform den Wind nicht spürt. Er versucht angestrengt, den Brunnen zu finden. Viele andere Optionen haben sie nicht. Plötzlich erkennt er links voraus eine dunkle Linie in der gleichmäßigen Schneedecke. Ob das eine Wegspur ist? Luok fängt seinen Gedanken auf und lenkt ihre Flugbahn in die Richtung der möglichen Spur. Gleichzeitig lässt sie sich tiefer fallen. Sobald sie näher herankommen, erkennt He'sha, dass hier tatsächlich eine einzelne Fußspur durch den Schnee führt. Nun sind auch die kleinen Steinpyramiden zu erkennen, mit denen der verschneite Weg markiert ist.
«Das muss der Weg von Nanoar nach Tenar sein. Nun müssen wir nur noch herausfinden, ob Silmiras Brunnen nördlich oder südlich von hier liegt.»
«Vermutlich südlich. Dánan hat eine Karte von dieser Gegend. Wenn ich mich richtig erinnere, biegt der Weg beim Brunnen nach Westen ab.»
Luok brummt etwas Unverständliches über Menschen, deren Gedächtnis so schlecht ist, dass sie Karten brauchen. Gleichzeitig fliegt sie aber eine Schleife, um der Spur nach Süden zu folgen. He'sha ist überrascht, dass sie seine Annahme so ohne weiteres akzeptiert. Andererseits bleibt ihnen bis Sonnenaufgang nicht mehr viel Zeit. Wenn sie nicht einen sehr unangenehmen Tag in der Ebene verbringen wollen, müssen sie sich beeilen, den Brunnen zu finden.
Bald erkennt er voraus eine kleine Senke und daneben einen etwas größeren Steinhaufen. Der Schnee ist hier völlig zertrampelt und He'sha fragt sich, ob kürzlich eine größer Gruppe diese Gegend durchreiste. Andererseits führt nur eine einzelne Spur zu der Stelle. Luok, die wie immer seine Gedanken teilt, fliegt leise eine Runde um den Steinhaufen und die Sträucher. Nun ist auch die Einfassung eines kleinen Sodbrunnens zu erkennen. Sie haben den Brunnen von Sié tatsächlich gefunden. He'sha atmet auf. Aber Luok strahlt plötzlich Unbehagen aus.
«Was ist los, Luok?»
«Die Spur, sie führt bis hierher aber nicht mehr weiter. Wer immer sie gelegt hat, ist noch hier.»
Besorgt studiert der junge Mann den Platz, während Luok weiter Runden zieht. Falls hier wirklich jemand lagert, kann das ein Problem werden. Der ausgetrocknete Brunnen ist das einzige brauchbare Versteck für Luok weit und breit. Silmira war überzeugt, dass niemand freiwillig im Winter die Hochebene von Gerin durchquert. Die Hrankae fliegt eine weitere Schleife um den Brunnen. Diesmal entdeckt He'sha etwas, das wie die Reste der Glut eines Lagerfeuers aussieht, direkt neben dem großen Steinhaufen. Erst jetzt erkennt er, dass es sich dabei um einen Windschutz handelt. Bei der nächsten Runde erspäht er auch die Gestalt, die neben dem Feuer liegt, gut in eine Decke eingewickelt. Der Lagerplatz ist tatsächlich besetzt.

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