Talai 2-18 In den Bergen

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In den Bergen

Am nächsten Morgen zieht Talai hinauf in die Berge. Zum Glück ist das Wetter endlich etwas wärmer und der Schnee beginnt ernsthaft zu schmelzen. Während das Kae auch bei Tagesanbruch noch beunruhigt war, dass es nirgends Artgenossen findet, sorgt sich die junge Frau immer noch wegen ihres beängstigenden Traums. Trotz der Unruhe, die er in ihr auslöste, kann sie sich nicht erinnern, was genau darin passierte.
Der Weg steigt entlang einer Bergflanke höher. Bald hat Talai eine gute Aussicht hinab in das Tal des Dioàr und weit darüber hinaus in die Hochebene von Gerin. An einer besonders schönen Stelle macht sie mittags eine Pause, um von den Vorräten zu essen, die sie bei der Wirtin in Tenar erhielt. Nun, im Sonnenlicht, scheint ihre Angst vor dem Traum übertrieben. Sie versucht, ihn zu vergessen, aber trotzdem verspürt sie auch im Lauf des Nachmittags immer wieder kalte Schauer, die sie an die vergangene Nacht erinnern. Wie muss das erst für Dánirah sein, die ständig von Träumen heimgesucht wird!
Tagsüber kommt Talai durch einige Dörfer. Sie sind klein, und meist besitzen sie kein Gasthaus. Sie hofft, am Ende des Tages trotzdem eine Unterkunft zu finden. Als sie kurz vor Sonnenuntergang eine weitere Gruppe von ärmlichen Häusern durchquert und von den Bewohnern mit misstrauischen Blicken beäugt wird, verliert sie den Mut. Es scheint, als sei die Skepsis ihrer letzten Gastgeberin gegenüber den Bergbewohnern nicht unbegründet.
Höflich fragt die junge Frau nach einer Möglichkeit, im Dorf zu übernachten. Aber sie wird überall abgewiesen. Meist öffnen die Einwohner nicht einmal ihre Tür, wenn sie anklopft. Müde und enttäuscht beschließt sie, weiterzuziehen. Vielleicht hat sie ja im nächsten Dorf mehr Glück. Aber sie erreicht keine bewohnte Gegend mehr, bevor es dunkel wird. Nun macht sich Talai ernsthaft Sorgen. Sie braucht einen geschützten Lagerplatz für die Nacht, auf dieser Höhe wird es nach Sonnenuntergang empfindlich kalt. Aber der Weg folgt nun einem schmalen Tal, und an den kahlen, schneebedeckten Hängen gibt es nur wenige kleine Tannen. Nichts bietet sich als Lager an.
Talai ist erleichtert, als das Kae sich in ihrer Laute regt. Rasch stellt sie ihre Tasche ab und wickelt das Instrument aus, damit die kleine Dunkelheit ihr Versteck verlassen kann. Sofort bemerkt diese, dass sie immer noch unterwegs sind und wendet sich mit besorgten Gedankenbildern an Talai. Sie versucht, dem Kae zu erklären, dass sie noch keinen geeigneten Lageplatz gefunden hat. Dank Ushins Hilfe bei der Entwicklung ihrer Gedankenstimme begreift das Kae rasch. Es strahlt Zuversicht aus und zeigt ein Bild von Talai, die weitergeht, bevor es wie ein flüchtiger schwarzer Nebel über den Schnee davonzieht. Auf der Suche nach einer Unterkunft.
Die junge Frau hat keine andere Wahl. Obwohl sie nach der langen Tagesetappe erschöpft ist, stapft sie beharrlich weiter. Es ist die Nacht vor Neumond und der Himmel wird nur von den Sternen erhellt. Ihr Licht genügt, dass Talai den festgetretenen Weg gerade noch erkennen kann. Trotzdem muss sie immer wieder stehenbleiben, um nicht in die Irre zu gehen. Plötzlich fühlt sie sich sehr einsam ohne das Kae. Sie versucht, es mit einem Gedankenbild zu rufen. Einen Moment glaubt sie, eine Antwort zu vernehmen. Aber es gelingt ihr nicht, ein klares Bild zu empfangen oder die Richtung zu bestimmen, aus welcher die Nachricht kam. Deshalb geht sie unermüdlich weiter und versucht, sich mit ihrem Tanna-Schal gegen den beißenden Wind zu schützen, der durch das Tal zieht. Wenn sie an dieser ausgesetzten Stelle bleibt, wird sie die Nacht nicht überleben.
Vor Erschöpfung beinahe blind setzt Talai stur einen Fuß vor den anderen. Sie bemerkt erst, dass sie vom Weg abgekommen ist, als sie bis zu dem Knien in eine Schneeverwehung einsinkt. Leise fluchend zieht sie einen Fuß nach dem anderen wieder aus dem Tiefschnee und kehrt auf die festgetretene Spur zurück. Nun sind ihre Schuhe voll Schnee. Sie müsste sie ausziehen, um ihn zu entfernen. Das will sie hier im offenen Feld lieber nicht tun. Mit zusammengebissenen Zähnen nimmt sie ihren Weg wieder auf und versucht, ihre kälter werdenden Füße nicht zu beachten.
Talai weiß, dass sie nicht die ganze Nacht so weitergehen kann. Sie braucht dringend eine geschützte Stelle, um ein Feuer zu entfachen, sich aufzuwärmen und auszuruhen. Als das Kae endlich zurückkommt, bemerkt sie es im ersten Moment gar nicht. Erst als es hartnäckig das Gedankenbild einer trockenen kleinen Höhle wiederholt, erkennt sie, dass es sich nicht um einen Wunschtraum ihrer Einbildung handelt. Abrupt bleibt sie stehen und blickt sich suchend nach der kleinen Dunkelheit um. Sie ist als Schatten auf dem Schnee nur zu erahnen. Talai braucht ungewohnt lange, bis sie versteht, dass ihr kleiner Freund eine Unterkunft gefunden hat, weiter oben am Hang. Zögernd folgt sie der Aufforderung, den Weg zu verlassen und querfeldein durch ein steiles Schneefeld aufzusteigen. Inzwischen spürt sie ihre Füße kaum noch und fällt immer wieder hin, um beharrlich aber zitternd wieder aufzustehen. Sie ist dankbar, dass das Kae an ihrer Seite bleibt. Es strahlt eine Mischung aus Besorgnis und Aufmunterung auf und wiederholt ständig das Bild der Höhle.
Talai hat keine Ahnung, wie lange es dauert, bis sie ein schmales Felsband erreicht. Auf Anweisung des Kae folgt sie ihm talaufwärts. Kurze Zeit später findet sie eine Stelle, wo der überhängende Felsen ein kleines Schutzdach bildet. Ein Teil davon ist mit einer Mauer gegen das Tal hin abgeschlossen. Nur ein niedriger Eingang erlaubt es Talai, in den kleinen, windgeschützten Raum hineinzukriechen. Vermutlich benutzte ein Hirte dieses behelfsmäßige Gebäude im Sommer als Übernachtungsplatz. Am Boden ertastet Talai trockenen Tierkot. Sie wischt ihn beiseite und lehnt sich in der hintersten Ecke des Schutzraums gegen eine Wand. Zitternd vor Kälte ist dennoch dankbar, endlich dem Wind ausgewichen zu sein. Erst als sie sich etwas erholt hat, tastet sie sich durch den Raum. Er ist nur etwa fünf Schritte lang und knapp drei breit. Freudig überrascht bemerkt die junge Frau den Holzstapel, der neben dem Eingang aufgeschichtet ist. Sie muss eine Weile suchen, bis sie die Feuerstelle ganz am einen Ende des Raums findet. Tastend überprüft sie, ob es so etwas wie einen Rauchabzug gibt. Tatsächlich, über der Feuerstelle weist die Mauer unter dem niedrigen Felsdach eine Öffnung auf. Erleichtert bringt Talai etwas Holz zu der Feuerstelle und sucht Feuerstein, Stahl und etwas Zunder hervor. Inzwischen hat sie viel Übung im Umgang mit diesem Werkzeug. Trotzdem dauert es heute lange, bis die ersten trockenen Zweige Feuer fangen. Danach kann sie endlich die nassen Schuhe ausziehen. Sie rollt sich neben der Feuerstelle in ihre Decke. Das Kae strahlt immer noch Besorgnis aus. Deshalb sitzt Talai noch einmal auf, um ihm aus ihrer halbleeren Flasche einen Becher Wasser einzugießen. Aber die kleine Dunkelheit interessiert sich heute nicht dafür. Mit einer Flut von Bildern versucht sie, Talai zu überzeugen, etwas zu essen. Aber die junge Frau ist müde und hat keinen Hunger. Schließlich lässt sie sich überreden, die Hälfte des Wassers zu trinken. Das Kae trinkt anschließend den Rest. Plötzlich scheint es Talai in dem Höhlenraum viel zu heiß. Sie rückt zunächst vom Feuer ab und steht nach einer Weile stöhnend noch einmal auf, um vor dem Eingang ihren Topf mit Schnee zu füllen. Sie setzt ihn neben das Feuer, damit sie morgen früh neues Wasser hat. Mit einer Handvoll Schnee reibt sie sich das glühende Gesicht. Ob sie Fieber hat? Überzeugt, dass sie nur von dem langen Tag erschöpft ist, rollt Talai sich in ihrer Decke zusammen. Das Kae wartet, bis sie sich zu entspannen beginnt und verabschiedet sich, um nach Artgenossen zu suchen. Talai wünscht ihm Erfolg, bevor sie erschöpft einschläft. Kurz darauf hält der Albtraum der vergangenen Nacht sie wieder gefangen.

TalaiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt