Talai 2-12 Etwas Besonderes

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Etwas Besonderes

Talai beschäftigt sich schon den ganzen Vormittag mit dem Gedanken an die seltsame Begegnung im Morgengrauen. Immer wieder blickt sie über die Schulter zurück und erwartet beinahe, in der Distanz den seltsamen jungen Mann zu sehen, der sie verfolgt. Jedesmal kann sie nur unberührten Schnee erkennen und die kleinen Steinkegel, die den Weg markieren.
Irgend etwas an dem Mann war seltsam. Nein, eigentlich gab es da eine ganze Reihe von Seltsamkeiten. Zunächst war er mit einer Dunkelheit unterwegs. Talai muss zugeben, dass das gleiche auf sie auch zutrifft. Aber die Dunkelheit des Fremden war um einiges größer als ihr kleiner Freund, das Kae. Immerhin strahlte sie keine Bedrohung aus. Talai ist sicher, dass sie trotz aller guter Vorsätze einer Gedankenbildattake einer Dunkelheit dieser Größe nicht hätte widerstehen können. Sie war außerdem überrascht, wie gut sie sich mit ihr verständigen konnte. Das Kae half dabei, stellte sie dem fremden Wesen sogar respektvoll vor. Dieses antwortete in der Sprache der Kae, schickte ihr eine einfache und klar verständliche Bilderreihe. Talai begriff rasch, dass dieses Wesen nur ein Versteck brauchte und nicht die Absicht hatte, ihr zu schaden oder den Brunnen wieder unbrauchbar zu machen. Im Gegenteil, die große Dunkelheit nahm die Leistung, den Brunnen vom Sand befreit zu haben, mit Anerkennung wahr.
Das Wesen der Nacht ist also wohl nicht der Grund für ihr Unbehagen. Zumindest war das Kae der Ansicht, es bestünde keine Gefahr, als es sich kurz vor Sonnenaufgang freundlich von dem fremden Schatten verabschiedete und in sein Versteck zurückkehrte. Es erweckte den Eindruck, als sei eine solche Begegnung nichts besonderes.
Also wird es wohl das Zusammentreffen mit dem jungen Mann sein, das ihr soviel Kopfzerbrechen bereitet. Eigentlich unterschied er sich vor allem durch sein tiefschwarzes Haar von den jungen Kriegern, die sie aus ihrer Heimat kennt. Er muss dem Volk der Tannarí angehören. Dazu passen aber die silbernen Augen nicht. Talai könnte schwören, dass sie im Mondlicht leuchteten. Der Effekt verblasste rasch in der heller werdenden Dämmerung, aber sie ist sicher, dass sie sich nicht täuschte.
Nur zu gerne hätte sie das Kae oder den fremden Schatten dazu befragt, aber die beiden waren so kurz vor Sonnenaufgang nicht mehr zu einer Unterhaltung aufgelegt. Deshalb machte sie sich so rasch wie möglich auf den Weg. Sie hatte keine Lust, ohne die beruhigende Anwesenheit der beiden Dunkelheiten mit dem Unbekannten allein zu bleiben.
Talai kann es kaum erwarten, bis es Abend ist und sie sich mit dem Kae über die seltsame Begegnung unterhalten kann. In der Zwischenzeit ist sie froh, dass sie nicht verfolgt wird. Aber vermutlich hat der Fremde keine Wahl, er muss bis zum Sonnenuntergang warten, wenn er seine Dunkelheit nicht zurücklassen will. Talai ist froh, dass das Kae so klein und leicht ist. So kann sie am Tag reisen und es hält für sie in der Nacht Wache. Nun ja, wenn es nicht gerade auf die Idee kommt, nachts einen versandeten Brunnen auszugraben. Sie spürt die ungewohnte Anstrengung immer noch in allen Gelenken und Muskeln und fragt sich, wie oft sie wohl diese sandgefüllten Kübel aus dem Schacht herauszog.
Unwillkürlich geht sie etwas schneller. Die Bewegung lockert ihre verkrampften Muskeln und außerdem will sie soviel Diatanz wie möglich zwischen sich und den unheimlichen Fremden bringen. Vermutlich ist es am besten, wenn sie bis tief in die Nacht hinein weitergeht. Sie möchte nicht von ihm eingeholt werden. Missmutig wirft sie einen Blick zurück über die Schulter auf ihre Spur. Sie ist so deutlich zu erkennen, dass es keine große Kunst ist, ihr zu folgen.
Erst in diesem Moment fällt ihr auf, was es tatsächlich ist, das sie unterbewusst beunruhigt. Der Fremde und seine Dunkelheit erreichten ihr Lager heute morgen von Süden her. Ihre Spuren waren auf der Südseite, dort wo sie selbst den Schnee bei ihrer Nachtarbeit nicht zertrampelt hatte, deutlich zu erkennen. Aber diese Spur führte nicht weiter. Also muss der Mann gelogen haben, als er behauptete, von Süden zu kommen. Warum ist sie darüber so schockiert?
Plötzlich fällt ihr das Gedankenbild wieder ein, mit dem das Kae sie kurz vor der Ankunft der beiden weckte, das Bild von mächtigen schwarzen Schwingen und scharfen Zähnen. Sie fröstelt. Auf einmal scheint es ihr durchaus möglich, dass ihre nächtlichen Besucher überhaupt keine Spuren hinterlassen.

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