Talai 1-12 Begegnung in Haonjit

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Begegnung in Haonjit

Haonjit ist der große Handelshafen und Warenumschlagplatz am Fluss Haon. Er liegt eigentlich im Süden des Landes Inoira, aber die Einwohner von Haonjit anerkennen von alters her weder den Fürsten von Inoira noch den Rat von Lelai. Sie sind stolz auf ihre Unabhängigkeit und sich wohl bewusst, dass ihr Ort nur deshalb nie erobert wurde, weil alle umliegenden Länder, das mächtige Kelèn eingeschlossen, auf die Güter angewiesen sind, die durch Haonjit fließen. Der Haon ist zwar noch ein gutes Stück weiter hinauf schiffbar, wegen einiger schwieriger Stellen aber nur für kleine Schiffe. Die großen Lastschiffe laden deshalb ihre kostbare Fracht, die sie am nördlichen Meer in Lejit aufnehmen, in Haonjit um.
Frischer Schnee knirscht unter Talais Schuhen, als sie den Abstieg zu der großen Siedlung beginnt. Haonjit liegt weit ausgebreitet vor ihr, das kantige Mosaik der Dächer im Rauch der zahllosen Herdstellen verschwimmend. Während sie beim letzten Besuch vom königlichen Schiff aus fasziniert das zusammengewürfelte Erscheinungsbild des Ortes bestaunte, fühlt sie sich diesmal unsicher und etwas nervös. Was vom vertrauten Schiff aus exotisch wirkte, hat nun einen beängstigenden Beigeschmack. Aber wenn sie nach Penira zurückreisen will, muss sie irgendwo den mächtigen Fluss Haon überqueren. Hier in Haonjit gibt es eine Fähre. Wenn sie Glück hat, kann sie mit ihrem Singen genügend Geld für eine Überfahrt gewinnen. Einfacher wäre es wohl, mit einem Schiff direkt nach Süden zu reisen. Aber sie wagt nicht darauf zu hoffen, dass sie einen Schiffer findet, welcher sie flussaufwärts mitnimmt.
Der Neuschnee bedeckt die Rieddächer der zahllosen verwitterten Holzhäuser, Schuppen und Lagerhallen. Er liegt auf den Trockengestellen für Fischernetze und den Booten verschiedenster Größe und Bauart, die zwischen den Häusern aufgebockt sind. Nur auf der Straße verwandelt er sich langsam in Matsch. Talai zieht fröstelnd ihre Jacke enger um die schmalen Schultern, als sie die ersten Gebäude Haonjits erreicht. Sie hofft, hier freundliche Menschen, ein Dach für die Nacht und eine Möglichkeit zur Überquerung des Haons zu finden.
Bisher hatte sie Glück und konnte jede Nacht irgendwo unterkriechen, sei es in einem Stall, einem Schuppen, bei einem Bauern in der Küche oder sogar in einem ungenutzten Zimmer eines Gasthofs. Ihr Geschick mit der Laute und ihre angenehme Stimme öffneten ihr manche Tür und verschafften ihr manche Mahlzeit. Ein Lächeln spielt um ihre Lippen, als sie daran denkt, wie sie gestern Abend erstmals den Mut fand, in einer Gaststube ein eigenes Lied vorzutragen. Ihre Zuhörer waren großartig. Sie musste ihr Lied zweimal vortragen, und beim zweiten Mal begleitete der Sohn des Wirts sie auf seiner Mundharmonika. Danach spendierte sein Vater ihr einen zweiten Teller Suppe und meinte, sie dürfe jederzeit wiederkommen, um seine Gäste zu unterhalten. Talai konnte ihr Glück nicht fassen, als sie später im warmen Stall lag. Nun klimpern in ihrer Tasche sogar einige Münzen, die sie gestern zugesteckt bekam. Sie hofft, dass sie für die Überfahrt über den großen Fluss ausreichen.
Leise summt sie die Melodie ihres Liedes vor sich hin, während sie nach Haonjit hineingeht. Es handelt vom Erwachen der Feuerdrachen, einer Geschichte, die sie als Kind oft zu hören bekam. Die Melodie trug sie schon lange mit sich herum und die Worte ergaben sich wie von selbst auf den langen Stunden unterwegs. Zuhause in Penira improvisierte sie immer gerne auf ihrer Harfe. Aber ihre Lehrer begrüßten dieses Verhalten nicht. Sie verlangten von der Prinzessin, die traditionellen Stücke im herkömmlichen Stil perfekt zu spielen, was ihr bald langweilig wurde. Nun, mit der Laute, schreibt ihr niemand mehr vor, wie und was sie zu spielen hat. Sie genießt diese Freiheit und in ihrem Kopf wirbeln schon die Ideen für ein neues Lied.
Talai ist so in Gedanken versunken, dass sie unachtsam mit dem rechten Fuß in eine Pfütze in der Fahrspur eines Wagens tritt. Das kalte Wasser, dass sofort ihren alten Lederschuh durchweicht, lässt sie zusammenzucken. Zwei ältere Frauen, die den Vorfall vom Straßenrand aus beobachten, lachen herzhaft. Aber Talai ist es nicht ums Lachen. Es ist kalt und sie besitzt nur dieses eine Paar Schuhe und Strümpfe. Sie schilt sich für ihre Unachtsamkeit und sucht sich vorsichtig einen trockenen Weg. Sie will wenn möglich den Haon noch heute überqueren und hat deshalb keine Zeit zu verlieren.
Ihr Schuh macht immer noch bei jedem Schritt ein schmatzendes Geräusch, als Talai endlich das Flussufer erreicht. Hier liegen an einem langen Kai zahlreiche Schiffe und Boote vertäut. Einige werden entladen, andere nehmen neue Fracht auf. Einen Moment lang ist Talai versucht, nach dem Flussschiff ihres Vaters zu suchen. Aber sie weiß, dass dieses inzwischen längst wieder den Heimathafen bei Penira erreicht haben muss. Deshalb erkundigt sie sich bei einem alten Fischer, der sein Netz flickt, nach der Fähre. Er weist ihr den Weg flussaufwärts. Dort, am Ende der Siedlung, hat die Flussfähre von Haonjit ihren Liegeplatz. Talai erkennt von weitem, dass sie Pech hat. Das flache Schiff hat soeben abgelegt und bewegt sich, von Männern mit langen Stangen getrieben, auf die Mitte des langsam fließenden Flusses zu. Seufzend rückt sie sich den Riemen ihrer Tragetasche zurecht und tastet mit der Hand nach der kostbaren Laute. Vermutlich ist es am besten, zunächst nach der Abfahrtszeit der nächsten Fähre zu fragen. Zielstrebig geht sie auf das kleine Holzgebäude an der Anlegestelle zu, als ihr jemand den Weg vertritt.
Die Frau hat langes schwarzes Haar, das sie in einen dicken Zopf geflochten trägt. Er fällt ihr über die linke Schulter. Ihr Gesicht ist sonnengebräunt und wettergegerbt aber die Falten um ihren Mund und ihre Augen zeigen an, dass sie gerne lacht. Sie ist dunkel gekleidet, etwas was in dieser Gegend auffällt. Wenn sie sich bewegt, klirren an ihren Hand- und Fußgelenken zahlreiche Silberringe. Überrascht stellt Talai fest, dass die Fremde keine Schuhe trägt. Etwas entsetzt starrt sie auf die nackten Füße der Frau und vergisst darüber ganz, dass diese eine Bedrohung darstellen könnte. Die freundliche Stimme der Tanna reißt sie schließlich aus ihrer Starre.
«Ich bin Dánirah. Ich habe von dir geträumt.»

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