Talai 1-7 Fluchtgedanken

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Fluchtgedanken

Am Nachmittag des zweiten Tages erreicht die Räuberbande endlich ihr Versteck. Es liegt tief in den Wäldern Inoiras und ist nur über einen schmalen, gewundenen Pfad erreichbar. Mehr konnte Numesh nicht in Erfahrung bringen, da seine Augen auf dem letzte Wegstück verbunden waren. In der Folge hinterließen zahlreiche Zweige und Äste auf seinem Gesicht und seinen Armen tiefe Kratzer und blaue Flecken.
Er ist deshalb froh, als er unsanft vom Pferd gestoßen wird. Zumindest ist die Tortur für heute vorbei. Der Boden, auf dem er liegt, ist felsig. Mit gefesselten, beinahe gefühllosen Händen ertastet er seine Umgebung, so gut es geht. Da wird er unsanft auf die Beine gerissen und einen steilen Hang hinauf gezerrt. Er hat immer noch keine Ahnung, warum er überhaupt noch am Leben ist. Deshalb versucht er, seinem Wächter so gut als möglich zu folgen. Er will nicht riskieren, als unbequeme Last empfunden und umgebracht zu werden. Der Aufstieg ist zum Glück nur kurz. Oben am Hang angelangt führt ihn sein Begleiter in eine kühle Höhle. Erst jetzt entfernt er Numeshs Augenbinde. Der Krieger atmet tief durch und sieht sich neugierig um. Fast sofort fällt sein Blick erleichtert auf Marish, der ebenfalls mit verbundenen Augen in die Höhle geführt wird. Der ältere Mann sieht wesentlich besser aus als am Morgen vor dem Aufbruch. Da war er zwar bei Bewusstsein, aber kaum in der Lage, sich selbständig im Sattel zu halten.
Marishs Führer reißt ihm unsanft die Augenbinde vom Kopf und stößt ihn in eine Ecke der Höhle. Dort fesselt er ihm die Füße zusammen. Numesh geht es nicht besser. Bald sitzen die beiden Gefangenen Seite an Seite mit dem Rücken gegen die kalte Felswand gelehnt. Ihre Wächter verlassen wortlos die Höhle.
Aufmerksam sieht Numesh sich um. Eigentlich befinden sie sich nur unter einem weit überhängenden Felsdach oder in einer großen Felsnische, nicht in einer richtigen Höhle. Durch den breiten Eingang sind Baumkronen zu erkennen. Numesh lehnt sich erschöpft zurück gegen den Felsen. Feuchtigkeit dringt durch sein Hemd und er spürt Marish neben sich zittern. Besorgt sieht er sich nach seinem Mitgefangenen um. Er hat offensichtlich Fieber, das wohl auf seine Verletzungen zurückgeht. Der Krieger hat zumindest eine Pfeilwunde in der Schulter und eine zweite im Oberschenkel, die beide nur notdürftig verbunden sind. Numesh selbst hatte Glück, der Pfeil durchschlug seinen Schwertarm, ohne den Knochen oder eine wichtige Ader zu treffen. Er hinderte ihn zwar daran, zu kämpfen, hinterließ aber eine verhältnismäßig harmlose Verletzung. Der Hauptmann geriet in Gefangenschaft, weil sein tödlich verwundetes Pferd stürzte und dabei den Fuß seines Reiters einklemmte. Verwundet und blockiert blieb ihm nichts anderes übrig, als sich zu ergeben, sobald ein Bogenschütze aus einer Distanz von drei Armlängen einen Pfeil auf sein Herz richtete.
Ein Mann betritt die Höhle mit zwei Bechern Wasser, die er den Gefangenen reicht. Es ist schwer, mit gefesselten Händen den Becher zu halten und an den Mund zu führen, aber Numesh verschüttet keinen Tropfen der kostbaren Flüssigkeit. Marish gelingt es nach mehreren Versuchen ebenfalls, auszutrinken. Brummend nimmt der Fremde die Becher wieder an sich und verlässt die Felsnische. Wenig später tritt ein stämmiger dunkelhaariger Mann vor die Gefangenen. Aus seinem selbstbewussten Auftretens schließt Numesh, dass dies der Anführer der Bande ist. Seine ersten Worte bestätigen diese Einschätzung.
«Nun, da haben wir also zwei Mitglieder der königlichen Garde von Penira. Sie sind gar nicht so stolz, ohne ihre blauen Mäntel und die Rüstung mit der Sonnenscheibe. Ich hätte mir etwas weniger klägliche Exemplare gewünscht.»
Numesh antwortet nicht. Solange der Mann von sich aus spricht, genügt es, wenn er zuhört und versucht, sich die wichtigsten Dinge zu merken. Sein Gegenüber scheint auch gar keine Antwort zu erwarten.
«Ich hoffe für euch, dass euer König bereit ist, für das Wohlergehen seiner Gardisten etwas einzusetzen. Was denkst du, wieviel ist ihm euer Leben wert?»
Numesh, an den die Frage gerichtet ist, zuckt nur die Schultern. Er fragt sich, wie dieser Mann eine Lösegeldforderung durchsetzen will. Penira ist weit weg und sein König hat Wichtigeres zu tun, als sich um das Wohl zweier Krieger zu sorgen, selbst wenn sie zu seiner persönlichen Garde gehören. Wenn die Räuber seine Tochter Talai gefangen hätten, wäre das eine andere Sache. Schmerzhaft ist sich Numesh bewusst, dass die Prinzessin vermutlich tot ist, dass sie umgebracht wurde, während sie unter seinem Schutz stand. Weil er keine Antwort erhält, spricht der Bandenführer weiter. Er scheint die Richtung von Numeshs Gedanken zu erahnen.
«Du glaubst bestimmt, dass ich keine Möglichkeit finde, bei deinem König Lösegeld einzufordern, Hauptmann. Du bist doch der Hauptmann dieser Truppe?»
Diesmal fährt er fort, ohne eine Antwort abzuwarten.
«Nun, da liegst du falsch. Ein Bote ist bereits zu deinem König unterwegs. Wir wissen, dass er auf Staatsbesuch in Lelai weilt. Gewisse Neuigkeiten sprechen sich schnell herum. Mein Mann reitet eines eurer Pferde und hat die Brustplatte deiner Rüstung dabei. Das wird dem König als Beweis genügen. Falls nicht, kann ich ihm immer noch ein Stück von deinem Freund hier schicken. Den Kopf zum Beispiel.»
Numesh bemüht sich, nicht zu zeigen, wie angewidert er ist. Wenn der Bandit dem König einen abgeschnittenen Kopf schicken wollte, hätte er auch einen von einem toten Krieger nehmen können. Vermutlich war die Idee mit der Lösegeldforderung ein Nachgedanke, der erst nach dem Überfall entstand. Immerhin verdanken Numesh und Marish ihm ihr Leben. Allerdings stellt sich die Frage, was die Banditen tun werden, wenn sie erfahren, dass Pentim den Staatsbesuch abgebrochen hat und längst wieder auf dem Heimweg ist. Es ist bestimmt besser, nicht solange mit der Flucht zu warten. Die nächste Aussage des Räubers weckt Numeshs ganze Aufmerksamkeit.
«Schade dass die Schlampe tot ist, die mit euch unterwegs war. Sie wäre ein ideales Präsent für den König gewesen. Aber sie hat sich beim Sturz den Kopf aufgeschlagen. Wenn es nicht so geregnet hätte, hätten meine Männer trotzdem noch ihr Vergnügen mit ihr gehabt. Was soll's, Mädchen wie sie gibt es viele.»
Ungläubig blickt Numesh seinem Spötter ins Gesicht. Ist es möglich, dass er die Prinzessin für ein Freudenmädchen hielt? Nun, Talais Vorliebe für einfache Reisekleidung war immer ein Streitpunkt zwischen ihr und dem König. Diesmal hätte sie ihr vielleicht sogar das Leben gerettet, wenn sie nicht so unglücklich gestürzt wäre. Der Räuber interpretiert seinen Blick falsch.
«Was ist? Stand sie dir nahe? War das etwa dein Mädchen? Tja, Pech gehabt!»
Damit verlässt er lachend die Höhle. Numesh lehnt den Kopf zurück und atmet tief durch. Sobald er sich wieder unter Kontrolle hat, wirft er Marish einen Blick zu und öffnet seine zur Faust geballte rechte Hand. Sie hält einen scharfen Steinsplitter umschlossen, den er bei seinem Sturz unten am Hang zu fassen bekam. Auf Marishs bleichem Gesicht breitet sich ein Lächeln aus. Mit gefesselten Händen zieht er sein linkes Hosenbein hoch. Im Schaft seines Stiefels steckt das Messer, das er dem Mann entwenden konnte, der ihn zur Höhle brachte.

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