Talai 3-18 Unter die Erde

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Unter die Erde

Talai versucht, die weinende Laiàn zu beruhigen und gleichzeitig einen Plan zu schmieden. Sie kann nicht tatenlos zusehen, wie Sorim etwas passiert, obwohl sie den Jungen wegen seines eigenmächtigen Handelns schilt. Er bringt dadurch ihre ganze Rettungsmission in Gefahr, noch bevor sie richtig begonnen hat. Wenn sie nur wüsste, was sie tun kann... Besorgt lässt sie den Blick über das Minengelände schweifen. Da, was geschieht jetzt? Sobald alle Kinder im Innern des Stollens verschwunden sind, bei dem Sorim soeben gefangen wurde, verschliessen zwei Männer den Stolleneingang. Im Schein der Fackeln klappen sie ein schweres Gitter über den Zugang und schieben einen massiven Riegel vor.
Tief in der Erde spürt Talai ein unheimliches Grollen. Plötzlich fällt ihr der Traum ein, der sie seit vielen Tagen verfolgt und der immer wiederkehrt, obwohl sie ihn tagsüber erfolgreich verdrängen kann. Nun beginnt sie endlich zu verstehen. Im Traum befindet sie sich in einer engen Höhle, oder vielmehr in einem Stollen, dessen Wände zum gleichen Grollen erzittern. In schwachem bläulichem Licht versucht sie, einen Ausweg zu finden, mit einer schweren Last beladen. Vor sich erkennt sie zahlreiche kleine Gestalten, die eilig durch den Stollen hasten.
Talai weiß auf einmal genau, was sie zu tun hat. He'sha wird sich um Sorim kümmern, bestimmt hat er mitbekommen, dass er festgenommen wurde. Sie dagegen muss den Kindern helfen, die in der Mine gefangen sind.
«Laiàn? Hör zu, du musst jetzt stark sein. Ich gehe in die Mine. Wo kann ich hineinkommen?»
Das Mädchen klammert sich an sie und bricht erneut in Tränen aus.
«Wir müssen etwas unternehmen, Laiàn, viele Kinder sind in der Mine eingeschlossen und der Stollen droht einzustürzen. Ich muss da hinunter, um sie herauszuholen. Verstehst du?»
Laiàn sieht sie erschrocken an.
«Du kannst nicht da hinunter. Sie werden dich auch fangen, wie Sorim.»
«He'sha und Luok werden mir helfen. Du musst jetzt tapfer sein, Laiàn, und hier warten bis Dánirah und Liha kommen, um ihnen alles zu erzählen. Kannst du das?»
Das Mädchen nickt zögernd. Talai erlaubt sich nicht, die Entschlossenheit zu hinterfragen, die sie auf einmal erfüllt. Dies ist ihre Bestimmung, und ihre Träume haben sie seit vielen Nächten darauf vorbereitet.
«Gut. Nun sag mir, wo ich am besten aufs Minengelände komme, ohne gesehen zu werden.»

Kurz darauf nähert sich Talai der Absperrung. Von ihrer Ausrüstung trägt sie nur das Messer, den Bogen und den Köcher mit Jagdpfeilen. Alles andere, auch die kostbare Laute, ließ sie oben im Tal in einer Felsspalte zurück. Den schwarzen Schal hat sie über ihr blondes Haar gezogen. Der Rest ihrer Kleidung ist dunkel und unauffällig genug, um sie nicht zu verraten.
Unbemerkt schlüpft sie durch das Loch im Zaun, das Laiàn ihr beschrieben hat, und umgeht den betriebsamen Teil im Zentrum des Geländes. Sie hält sich an den Rand und bewegt sich vorsichtig durch die Schatten. Das Kae bleibt als feiner schwarzer Nebel dicht an ihrer Seite. Talai ist froh um diese Gesellschaft. Noch lieber wäre es ihr, wenn He'sha da wäre. Aber sie wagt nicht, nach ihm zu suchen und schon gar nicht in der Nähe der Häuser, wohin Sorim gebracht wurde.
Endlich erreicht sie ein Felsband oberhalb des Schachteingangs. Sie hält hinter einem Felsen inne, um Atem zu schöpfen und noch einmal das Gelände zu überblicken. Alles ist jetzt ruhig in der Nähe des neuen Schachts. Wenn Sorim die Wahrheit gesagt hat, wird erst gegen Mitternacht ein Lichtjunge hinuntersteigen, um die Brennsteine der Minenarbeiter auszutauschen. Das bedeutet, dass sie genügend Zeit hat, um ungesehen einzudringen. Wieder lässt ein dumpfes Grollen die Felsen unter ihren Füssen erzittern. Talai holt tief Atem und macht sich auf den Weg. Noch bevor sie die schützenden Felsen verlassen kann, schickt das Kae ihr ein freudiges Gedankenbild. Sie hält inne und versucht, die aufgeregten Gedanken ihres kleinen Freundes zu verstehen. Da empfängt sie ein Bild von einer Art, wie sie es erst einmal zu sehen bekam. Es zeigt die Kinder in der Mine und zitternde Stollenwände. Erst jetzt bemerkt Talai den mächtigen Schatten, der unterhalb ihres Standorts zwischen den Felsen liegt: Das Ijenkae ist zurück. Sie formuliert umständlich eine Frage, aber die große Dunkelheit kommt ihr mit der Antwort zuvor: Silmira ist nicht hier. Dies ist die Nacht vor Neumond und erlaubt der Nsil nicht, zu erscheinen. Aber es wird Talai bei ihrer Aufgabe beistehen. Erleichterung durchströmt sie. Zumindest muss sie nicht allein in die Mine eindringen. Das Ijenkae schickt ihr Bestätigung und die Aufforderung, sich zu beeilen. Wenn sie die Kinder aus dem Stollen holen wollen, bevor er einstürzt, dürfen sie keine Zeit verlieren. Talai benutzt ihre Gedankenstimme.
‹Warte, was ist mit den Kindern in den anderen Schächten?›
Das Ijenkae beruhigt sie. Vor allem dieser eine Schacht ist unmittelbar gefährdet. Talai holt tief Luft und setzt sich in Bewegung. Im schwarzen Nebel, den die große Dunkelheit um sie herum legt, ist es ungefährlich, den Stolleneingang zu erreichen. Sie braucht all ihre Kraft, um den Riegel zurückzuschieben und das Gitter soweit anzuheben, dass sie darunterschlüpfen kann. Zumindest verbirgt das Ijenkae sie vor neugierigen Blicken. Sobald Talai die schwankende Leiter in den senkrechten Schacht hinuntersteigt, folgen ihr die beiden Dunkelheiten. Die junge Frau ist beruhigt, dass sie diesen Weg nicht alleine gehen muss.
Der Abstieg erscheint Talai endlos. Bald schmerzen ihre Arme und sie fragt sich, wie sie jemals all diese Leitersprossen wieder hinaufklettern soll. Da erkennt sie unter sich in der Dunkelheit endlich ein schwaches, bläuliches Leuchten. Mit neuer Energie klettert sie weiter, bis sie endlich festen Boden unter den Füßen spürt. In diesem Moment läuft ein erneutes Zittern durch die Felsen.

TalaiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt