Talai 1-8 Vier Gräber

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Vier Gräber

Numesh zügelt sein Pferd, schließt die Augen und konzentriert sich aufs Lauschen. Bis jetzt scheint noch niemand ihre Flucht bemerkt zu haben, zumindest hört er keine Verfolger. Dabei lief bisher alles spielend einfach, zu einfach in seinen Augen. Mit einem letzten Blick über die Schulter treibt er sein Tier wieder an. Marish hat bereits einen deutlichen Vorsprung gewonnen und er beeilt sich, diesen wieder aufzuholen. Es ist noch sehr früh am Morgen, der Himmel wird gerade erst hell.
Numesh traute sich nicht, mitten in der Nacht aufzubrechen, obwohl die Dunkelheit die Verfolgung bestimmt erschwert hätte. Aber die Räuber kennen diesen Wald besser als er und sind den Flüchtenden gegenüber so oder so im Vorteil. Deshalb entschloss er sich, erst in den frühen Morgenstunden loszuschlagen, in der Hoffnung, die Aufmerksamkeit der Wächter sei dann am geringsten. Mit dem von Marish erbeuteten Messer war es ein leichtes, die Hand- und Fussfesseln durchzuschneiden. Schwieriger gestaltete es sich, an den Wachen vorbeizukommen. Der Wachmann am Höhleneingang war das kleinste Problem. Er hatte sich in seiner Decke zusammengerollt und sein lautes Schnarchen verriet, dass er keinen Ärger machen würde. Numesh ging davon aus, dass es in dem Felsband mehrere Felsnischen oder Höhlen nebeneinander geben musste. Deshalb galt es als nächstes, einen gefahrlosen Abstieg hinunter in den Wald zu finden. Das war einfacher als erwartet, als Marish das Ende eines Seils ertastete, das die Bande als Sicherung oder Handlauf installiert hatte. Vorsichtig ließen sich die beiden Flüchtlinge daran hinunter, bis sie ebenen Boden erreichten. Die Nachtwache der Räuberbande erleichterte ihnen den nächsten Schritt. Einige Männer unterhielten am Fuß eines Baumriesen unter einem improvisierten Dach aus Ästen und einer Abdeckung aus großen Blättern ein kleines Feuer. Dessen Schein und die lauten Stimmen von drei kartenspielenden Banditen verrieten den Flüchtenden nicht nur ihre Position, sondern auch wo die Pferde der Bande untergebracht waren. Marish bedeutete Numesh, ihm zu folgen. Der Hauptmann ließ seinem erfahreneren Kameraden in dieser Sache gerne den Vortritt. Trotz seiner Beinverletzung suchte sich der Krieger geschickt einen Weg durch das dichte Unterholz zu der offenen Stelle, an der die Pferde festgebunden waren. Während Numesh fasziniert von einem Versteck aus zusah, schnitt Marish drei seitlich stehende Tiere los, warf zweien davon einen Sattel über und führte sie langsam von den anderen Pferden weg. Der Hauptmann wagte kaum zu atmen, jederzeit gefasst auf ein lautes Wiehern, das die Aufmerksamkeit der Wachen wecken würde. Aber wie durch ein Wunder blieben die Pferde ruhig, während er gespannt die Wächter beobachtete. Außer den drei Kartenspielern schienen zwei weitere Männer beim Feuer zu schlafen. Eine Flasche machte unter den Spielern die Runde und bestärkte Numesh in der Vermutung, dass die Räuber betrunken seien. Etwas beruhigt machte er sich daran, seinem Kameraden zu folgen. Bald blieben die kehligen Stimme der Männer am Feuer hinter ihnen zurück. Das flackernde Licht der Flammen beleuchtete noch einen Moment lang den schmalen Weg. Sobald es nicht mehr zu sehen war, hielt Marish an, um die Tiere ordentlich zu satteln und aufzusteigen. Überrascht stellte Numesh fest, dass bereits das erste Morgenlicht durch die Blätter drang.
Inzwischen ist es Tag und der Weg ist sogar für Numesh deutlich zu erkennen. Er fragt sich immer noch, wie Marish die Spur in der Nacht so unfehlbar verfolgen konnte. Vermutlich überließ er es seinem Pferd, den Weg zu finden. Plötzlich mündet die Wegspur in eine Straße. Marish hält an und wirft seinem Hauptmann einen fragenden Blick zu. Sie haben immer noch nichts von ihren Verfolgern gehört. Numesh überlegt. Es spielt wohl kein Rolle, welche Richtung sie wählen. Hauptsache ist, dass sie so bald als möglich den Wald verlassen und bewohntes Gebiet erreichen.
«Lass uns nach rechts gehen. Wenn wir Glück haben, führt uns die Strasse zurück zu der Stelle des Überfalls und wir finden heraus, was mit den andern passiert ist.»
Er braucht die Prinzessin nicht extra zu erwähnen, Marish versteht auch so, dass er Sicherheit über Talais Schicksal haben muss, bevor sie nach Kelèn zurückkehren. Der alte Krieger nickt nur. Sein Gesicht ist gespenstisch bleich, sein Augen eingefallen. Neben den Verletzungen setzt ihm auch der Schlafmangel zu. Aber Numesh weiß nicht, was er dagegen tun könnte. Sobald sie in Sicherheit sind, wird er sich die Wunden ansehen müssen. Bis dahin kann er nur hoffen, dass Marish durchhält. Dieser treibt sein Pferd zum Trab an. Schweigend folgt der Hauptmann.
Einige Zeit später verlangsamt Marish das Tempo, um den Tieren eine Pause zu gönnen. Numesh, dem die Müdigkeit inzwischen zusetzt, ist froh. Das dritte Tier führt der alte Krieger immer noch an einem verlängerten Zügel, den er um seinen Sattelknauf geschlungen hat.
«Warum hast du drei Tiere mitgenommen, Marish?»
«Das sind mein Hengst und die kleine Stute, die beinahe unzertrennlich von ihm ist. Du erinnert dich bestimmt. Aber ich wollte für dich ein kräftigeres Tier, damit wir schneller vorankommen.»
Mit Bedauern erinnert sich Numesh an sein eigens Pferd, eine starke Stute, die ihn seit vielen Jahren begleitete und nun tot ist. Der graue Hengst, den Marish für ihn aussuchte, gehörte einem seiner toten Krieger. Das Tier ist gesund und ausdauernd. Er tätschelt ihm freundlich den Hals.
«Wie geht es dir? Hältst du noch eine Weile durch?»
«Ich halte durch solange ich muss. Wir können rasten, wenn wir diesen verfluchten Wald endlich hinter uns haben.»
Numesh gibt seinem Begleiter recht. Bald treiben sie die Tiere wieder zu einer schnelleren Gangart an. Sie verlangsamen das Tempo auch nicht, als es wieder zu regnen beginnt. Das Wasser dringt kalt durch ihre unzulängliche Kleidung. Aber sie besitzen weder Mäntel noch Decken, also ist es sinnlos, anzuhalten. Die Bewegung hält wenigstens die Pferde warm.

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