Die Frau mit den Träumen
Das Kae zwängt sich aus seinem gut geschützten Wurzelversteck und nimmt mit großer Anstrengung eine stabilere Schattenform an. Auf dem frisch gefallenen Schnee wirkt es wie ein Rußfleck, der Kontrast ungewohnt deutlich. Obwohl es der kleinen Dunkelheit endlich etwas besser geht, ist Tarnung im Moment ihre geringste Sorge. Seit der Boden gefroren ist, gelangt das Wesen der Nacht kaum an genug Feuchtigkeit. Eigentlich sollte es zum Fluss zurückkehren, um im Schilfgürtel oder unter den Wurzeln eines Uferbaums eine Stelle zu suchen, wo es jederzeit Zugang zu ungefrorenem Wasser findet. Solche Stellen sind aber im Moment selten und es ist bereits weit weg vom eigentlichen Ufer des Haon. Dorthin zurückzukehren wäre das Eingeständnis seines Versagens. Das Kae weiß, dass es der Königin der Nacht Meldung erstatten muss. Vielleicht findet Silàn eine Möglichkeit, ihm und seinen Artgenossen zu helfen. Seit Tagen schleppt es sich deshalb weiter, auf der Suche nach einem Boten, der seine Botschaft weiterträgt. Eine Gruppe Xylin wäre ideal, oder ein Mitglied des Volkes der Mondlichter, vielleicht auch eine Eule oder eine Fledermaus. Langsam braucht es seine Kraftreserven auf. Heute hatte es Glück, die Sonne ließ den Schnee am Fuß der Weide schmelzen und kaltes, frisches Schmelzwasser sickerte in sein Versteck. Jetzt geht es ihm seit langem endlich besser und es will versuchen, ein größeres Wegstück zurückzulegen.
Das Kae ist überzeugt, dass es früher oder später auf jemanden treffen wird, der seinen Hilferuf weiterträgt. Aber bis dahin muss es dafür sorgen, dass es nicht in einen Erschöpfungsschlaf fällt, wie die meisten seiner Artgenossen, die von der Krankheit befallen sind. Sie verkriechen sich in ihre Höhlen und lassen sich nicht mehr herauslocken. Dort verharren sie in einer Art Starre, in der Hoffnung auf Besserung. Dabei verzehren sie langsam aber unaufhaltsam ihre magische Substanz, bis ihr Schatten immer dünner und unscheinbarer wird und sich zuletzt ganz auflöst.~ ~ ~
Endlich nähert sich die Fähre dem Ufer. Talai beobachtet die Männer, die mit langen Stangen das große Boot geschickt zur Anlegestelle manövrieren. Beunruhigt fragt sie sich, ob es wohl richtig war, das Angebot der fremden Frau anzunehmen. Die Tanna bezahlte ohne Wimpernzucken den Preis für die Überfahrt für sie beide. Nun wartet sie mit verschränkten Armen und unergründlichem Gesichtsausdruck neben Talai, ins Studium einiger Enten vertieft, die am Kai darauf hoffen, dass ihnen jemand trockenes Brot zuwirft. Talai, die den ganzen Tag noch nichts gegessen hat, ist neidisch auf die Wasservögel, als eine Mutter mit zwei Kindern stehenbleibt, um sie zu füttern. Dánirah bemerkt ihren sehnsüchtigen Blick.
«Hast du heute schon etwas gegessen?»
«Nein, ich wollte zuerst sehen, wieviel die Überfahrt kostet und dann versuchen, genug Geld dafür und für eine Mahlzeit zu verdienen, vielleicht auch für ein Nachtlager.»
Sie verzichtet darauf, ihre Antwort zu beschönigen. Die Fremde nimmt das mit einem kleinen Lächeln zur Kenntnis. Aus ihrer Tasche holt sie einen Apfel hervor und drückt ihn Talai wortlos in die Hand. Diese ist peinlich berührt, als beim Anblick der rotbackigen Frucht ihr Magen hörbar zu knurren beginnt. Dánirahs Lächeln wird breiter.
«Iss, du siehst aus als könntest du etwas vertragen. Wenn wir den Fluss überquert haben, können wir uns nach einer Übernachtungsgelegenheit und einer warmen Mahlzeit umsehen. Wie gut bist du mit deiner Laute?»
Talai zuckt die Schultern. Wenn sie einen Vergleich hätte, würde sie die Frage gerne beantworten. Aber im Grunde genommen glaubt sie immer noch, dass sie bisher vor allem viel Glück hatte und dass dieses sie jeden Moment im Stich lassen kann. Sie holt ihr Messer hervor, um Dánirahs Apfel in zwei Hälften zu teilen. Überrascht nimmt die Tanna eine davon entgegen und beißt hinein. Schweigend essen die beiden Frauen den Apfel und beobachten, wie die Matrosen die Fähre am Steg festbinden und mit viel Routine entladen. Ein Wagen rollt holpernd auf den Anlegesteg, Fässer werden an Land gerollt und eine bunte Mischung von Menschen jeden Alters verlässt das Boot. Rasch ist die große Ladefläche geräumt und bereit für die nächste Fracht und die Passagiere, die den Haon überqueren wollen. Letztere werden gebeten, noch etwas zu warten, während die Besatzung einige Karren und eine kleine Herde Schafe auf das Schiff verlädt. Talai zieht ihre Jacke enger um sich und die Kapuze über den Kopf. Es ist kalt und sie lernte auf ihrer Reise, dass sie sich nur warmhalten kann, wenn sie in Bewegung bleibt. Das lange Warten auf dem Kai hat sie viel ihrer Energie gekostet. Dánirah scheint es nicht viel besser zu gehen. Sie hat ihren schwarzen Schal zweifach um die Schultern gezogen. Talai versteht immer noch nicht, wie jemand bei diesen Temperaturen ohne Schuhe unterwegs sein kann. Sie ertappt sich dabei, dass sie schon wieder auf die Füße der Tanna starrt. Diese registriert es mit einem Lachen.
«Schau mich nicht so entsetzt an. Das ist eine Frage der Gewohnheit. Ich ziehe schon so lange durch dieses Land, dass meine Füße eine Menge ertragen. Wenn wir in den nächsten Tagen durch frisch gefallenen Schnee gehen müssen, kann es sein, dass ich Stiefel anziehe. Bis dahin kann ich noch damit warten, meine Füße einzuzwängen.»
«Wie kommst du darauf, dass wir gemeinsam durch frisch gefallenen Schnee gehen?»
«Mein Traum. Aber lass uns dieses Thema diskutieren, wenn uns niemand hört. Meine Träume sind nicht für alle Ohren bestimmt.»
Talai muss zugeben, dass Dánirah sie neugierig macht. Ihr anfängliches Misstrauen hat deutlich nachgelassen, seit die Tanna ihren Apfel mit ihr teilte. Sie mahnt sich dennoch zur Vorsicht, entschlossen, nicht auf irgendeinen Trick hereinzufallen.
Endlich ist es soweit und der Fährmann lässt die Passagiere an Bord. Dánirah zieht Talai mit zur vorderen Reling, wo sie ein ruhiges Plätzchen finden. Interessiert beobachtet die junge Frau, wie die Mannschaft die Leinen löst und das Schiff mit langen Stangen in Fahrt bringt. Sobald sie auf den gemächlich fließenden Fluss hinauskommen, lässt der Schiffer an dem kurzen Mast des Boots eine lange Rah mit einem dreieckigen Segel aufziehen. Ein günstiger Abendwind treibt die schwerfällige Fähre erstaunlich rasch vorwärts. Dánirah wartet ab, bis an Deck Ruhe eingekehrt ist. Ihre Stimme ist leise, so dass nur Talai sie über das Plätschern der kleinen Wellen am Bug verstehen kann.
«Ich wollte nicht inmitten der Leute mit dir sprechen. Ich weiß, dass ich dir unheimlich vorkommen muss. Aber ich habe tatsächlich von dir geträumt und dich danach gesucht. Zum Glück sah ich dich im Traum auf dieser Fähre, deshalb wusste ich, wo ich auf dich warten musste.»
«Das klingt ziemlich unwahrscheinlich, finde ich.»
«Was für dich unwahrscheinlich klingt, ist mein Leben. Meine Träume bestimmen meinen Weg und begleiten mich durch das Land, von den Bergen in Atara zu jenen in Eshekir, von der Quelle des Haon in Nirah zu seiner Mündung ins nördliche Meer. Du bist nicht die einzige, die ich in meinen Träumen gesehen habe. Aber noch selten war ein Gesicht in einem Traumbild so deutlich wie deines.»
Talai starrt schweigend mit gerunzelter Stirn auf das trübe Wasser des Haon hinaus. Weiß Dánirah, wer sie ist? Ist es möglich, dass sie die Tochter des Sonnenkönigs erkannt hat und ein bestimmtes Ziel verfolgt? Sie kann das auf jeden Fall nicht ausschließen und nimmt sich vor, vorsichtig zu bleiben. Andererseits möchte sie gerne mehr über diesen Traum erfahren, von dem Dánirah spricht.
«Was habe ich in deinem Traum gemacht?»
Dánirah blickt die junge Frau direkt an. Ihre Gesicht ist ernst und ihre Stimme gedämpft. Ein kalter Schauer läuft Talai über den Rücken.
«Die Frage ist weniger, was du in meinem Traum gemacht hast, sondern wieso ich von dir geträumt habe, und zwar mehrmals. Meine Träume handeln von der Zukunft und sind immer für eine bestimmte Person bestimmt. Meist ist es schwierig, herauszufinden, für wen. Aber diesmal war das einfach. Ich habe dein Gesicht zum erstem Mal bereits vor einigen Monden gesehen. Du warst auf einem Schiff, irgendwo auf einem großen Fluss, und sahst aufs Wasser hinaus. Ich verstand den Traum nicht und konnte dich mit so wenigen Informationen auch nicht finden. Einige Zeit später sah ich dich in einem Wald, ich bin sicher dass es ein Regenwald im Norden war, irgendwo in Inoira. Du lagst verwundet am Boden und ich hielt dich für tot. Ich war hin und her gerissen. Sollte ich nach Inoira reisen und dich suchen? Was könnte das nützen, wenn du bereits tot warst? Ich wartete deshalb ab. Der nächste Traum zeigte dich mit deiner Laute, zusammen mit anderen Musikern. Also wusste ich, dass du noch lebst und beschloss, dich zu suchen. Ich war damals in Gerin und nahm an, dass du immer noch in Inoira warst. Das bestätigte sich, als ein weiterer Traum dich auf der Haonjit-Fähre zeigte. Dieses Traumbild wird heute wahr. Ich bin froh, dich endlich gefunden zu haben, wer immer du auch bist, Tochter von Kelèn.»
Überrascht blickt Talai auf. Ist es möglich, dass Dánirah so viel über sie weiß, ohne ihren Namen zu kennen? Unbewusst reibt sie sich die Narbe an ihrem Haaransatz. Die Tanna nickt.
«Die Verletzung aus dem Wald ist sauber verheilt. Du musst einen guten Heiler gefunden haben.»
«Eine Heilerin und gute Freundin. Hast du noch mehr geträumt?»
«Ja, von uns beiden. Ich sah uns gemeinsam durch Neuschnee ziehen, nach Süden. Wohin führt dein Weg?»
«Nach Hause. Ich reise zurück nach Kelèn.»
Talai ist froh, dass ein Matrose das Gespräch unterbricht. Er bereitet eine Leine zum Vertäuen des Schiffes vor. Dánirah macht ihm ungefragt Platz. Gemeinsam betrachten sie das näherkommende Ufer. Bereits senkt sich die Dämmerung über das Land. Endlich liegt das Schiff sicher vertäut am Steg und sie dürfen aussteigen. Die Siedlung auf dieser Seite des Haons ist kleiner und ärmlicher als Haonjit. Dánirah verabschiedet sich freundlich von dem Schiffer und tritt hinaus auf den in der Kälte knarrenden Holzsteg. Talai folgt ihr. Sie überlegt sich, ob sie versuchen soll, unbemerkt wegzulaufen. Aber Dánirah scheint ihre Absicht zu ahnen.
«Wenn du weglaufen willst, ist dies der richtige Moment, Lautenspielerin. Aber ich denke, dass dich dein Schicksal einholen wird, früher oder später.»
«Das denke ich auch. Aber ich bin nicht sicher, ob ich möchte, dass du darin eine Rolle spielst.»
Dánirah lacht und fasst Talai beim Arm, um ihr die Richtung in eine Seitengasse zu weisen.
«Du sagst, was du denkst, das gefällt mir. Wenn du willst, können wir uns morgen früh trennen. Aber lass uns heute in dem kleinen Gasthof da vorne zusammen ein Zimmer nehmen. Das ist günstiger als jede für sich allein. Vielleicht bekommen wir sogar eine warme Mahlzeit, wenn du bereit bist, dafür zu spielen.»
In dem Haus, auf das die Tanna weist, brennt goldenes Licht und verspricht angenehme Wärme. Der Gasthof ist klein, sieht aber sauber aus und Talai spürt wieder ihren Hunger.
«Gut, machen wir es so. Und wenn ich morgen alleine weiterziehen will, lässt du mich?»
«Versprochen, Lautenspielerin, ewig und einen Tag. Hast du auch einen Namen?»
Talai unterdrückt ein Seufzen. Eigentlich möchte sie ihre Identität nicht verraten. Andererseits hat sie das sichere Gefühl, dass Dánirah eine Lüge unfehlbar erkennen würde. Deshalb bleibt sie lieber bei der Wahrheit.
«Mein Name ist Talai.»
Die Augen der Tanna weiten sich.~ ~ ~
Luok räkelt sich im Schnee, als He'sha durch den Spiegel tritt. Er fragt sich, ob ihr die Kälte tatsächlich nichts ausmacht oder ob sie nur so tut, um ihn zu beeindrucken. Er hält beides für möglich, will aber das Spiel der Hrankae nicht mitspielen. Deshalb lässt er sich nichts anmerken.
«Hallo, Luok. Ich hoffe, dir ist es nicht langweilig geworden. Bist du bereit zum Aufbruch?»
«Jederzeit. Und du, hast du deine Aufgabe erfüllt? Weißt du, was du der Ahranan berichten musst?»
«Ja, ich habe Tanàn zu Großvater Andres begleitet. Er hat versprochen, ihr zu helfen und schickt Silàn Grüße. Tanàn meint, dass Salik sie vier Nächte vor dem Vollmond wieder abholen soll. Wo ist Salik überhaupt? Vielleicht trägt er mich zurück nach Silita-Suan, falls du es lieber nicht möchtest.»
Luoks goldene Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen. Ungehalten funkelt sie He'sha an. Dieser tritt unwillkürlich einen Schritt zurück.
«Ich habe dich hierhergebracht, also werde ich dich auch zurücktragen, Sohn der Nacht. Ich habe Salik losgeschickt, sobald es dunkel wurde. Ohne Reiter kommt er schneller voran und wir können den Rückweg in drei Etappen schaffen. Wenn wir hier nicht mehr lange herumtrödeln, werden wir ihn rasch einholen.»
Grinsend klettert He'sha auf Luoks breiten Halsansatz und sucht sich einen Platz an dem er ihre Flugbewegungen nicht behindert. Er weiß, dass normalerweise nur der Älteste Ranoz und Noak diesen Flug in drei Etappen schaffen. Diesmal kommt ihnen die lange Winternacht zu Gute. Trotzdem hat sich Luok viel vorgenommen. Aber ihm soll es recht sein, er liebt es, mit der Hrankae zu fliegen. Rasch kontrolliert er, ob seine Tasche ordentlich verschlossen ist, drückt sich die warme Mütze in die Stirn und zieht den Schal übers Gesicht. Es ist kalt, und der Flug wird bestimmt noch kälter. Schnaubend schlägt Luok ihre mächtigen Flügel und hebt mit einem gewaltigen Ruck ab. He'sha beugt sich tief auf ihren Hals und hält sich mit beiden Händen an ihren Schuppen fest. Es ist noch kälter, als er es sich vorgestellt hat. Luok fliegt schnell und erreicht schon bald eine Flughöhe, die ihr gefällt. Inzwischen weiß He'sha, dass sie am liebsten durch Wolken fliegt. Diese hängen im Moment tief über dem Land und schon bald wirbeln feucht Wolkenfetzen um den Drachenschatten und seinen Reiter. Die hohe Luftfeuchtigkeit durchweicht He'shas Kleider. Bald beginnt er trotz seiner Begeisterung für den Flug zu frieren und verliert trotz Schal und Handschuhen das Gefühl in der Nase und den Händen. Instinktiv drückt er sich noch enger an Luok und nimmt dabei seine eigene Schattenform an. Als Sohn der Königin der Nacht und eines großen Magiers der Tannarí kennt er nicht alle Grenzen seiner magischen Fähigkeiten. Eigentlich besitzen nur die Töchter des Hauses Silita wie die Wesen der Nacht eine Schattenform, die Möglichkeit, ihren Körper in einen Zustand zu versetzen, der einem dunklen Nebel oder Rauch ähnelt. Warum He'sha diese Gabe von seiner Mutter erbte, weiß niemand. Meist verzichtet er darauf, sie anzuwenden. Das Gefühl, sich aufzulösen, ist beängstigend und verwirrend. Aber heute bemerkt er den Prozess erst, als seine Schattenform sich an den Grenzen mit derjenigen Luoks vermischt. Plötzlich empfindet er keine Kälte mehr und das Atmen fällt ihm leicht. Überrascht genießt er das Gefühl von Freiheit und Wärme. Luoks Schnauben reißt ihn aus seinen Gedanken.
«Was hast du gemacht, Sohn der Nacht?»
«Ich habe meine Schattenform angenommen, wegen der Kälte. Stört es dich? Ich kann wieder zurückwechseln.»
Er spürt Luoks Lachen in seinen Gedanken. Erst jetzt wird ihm klar, dass er ihre Gefühle und Gedanken wahrnehmen kann, als wären es seine eigenen. Er zweifelt keinen Moment daran, dass die Hrankae umgekehrt auch seine Gedanken liest. Ein rumpelndes Lachen bestätigt das.
‹Behalte deine Schattenform ruhig bei. So spüre ich dein Gewicht kaum und wir kommen viel schneller voran. Zudem wäre Ranoz bestimmt verärgert, wenn ich meinen Reiter erfrieren liesse.›
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Talai
FantasíaNach einem Überfall findet sich die rebellische Tochter des Sonnenkönigs allein in einem fremden Land - einem Land, dessen Kinder von einer tödlichen Krankheit heimgesucht werden. Auf dem langen Weg nach Hause findet Talai überraschend Hilfe und Fre...