Talai 3-15 Zerwürfnis

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Zerwürfnis

Talai schläft schlecht. Bereits lange vor Sonnenaufgang steht sie auf und schleicht sich aus der Hütte. Die anderen regen sich noch nicht Dánirahs und Lihas Pferd stehen ruhig unter den Bäumen, wo der Drache von Kelèn sie gestern Abend anband. Eines der Tiere schnaubt leise, als sie an ihnen vorbei zum Flussufer geht. Dort setzt sie sich auf einen Stein, ungeachtet dessen dass er feucht ist und ihre Kleider nass werden. Sie macht sich Sorgen um He'sha. Während der Nacht kehrte er nicht zurück, und Talai fürchtet, dass sie ihn nie wieder sehen wird. Insgeheim hofft sie, dass er nur wie verabredet mit Luok den Weg auskundschaftet und bei Tagesanbruch zurückkehrt. Aber sie weiß, dass die Wahrscheinlichkeit nicht groß ist. Was sie zudem beunruhigt, ist dass weder Ushin noch das Kae bisher zur Hütte zurückkehrten. Ob auch die beiden Freunde sie verlassen?
Am liebsten würde Talai ihre Sachen zusammenpacken und ebenfalls weglaufen. Aber das kann sie Laiàn und Sorim nicht antun. Die beiden mussten in ihrem kurzen Leben bereits so viel durchmachen, dass sie sich schwer tun, überhaupt zu jemandem Vertrauen zu fassen. Wenn auch sie die Kinder nun im Stich lässt, bestätigt sie damit Sorims Ängste. Sie seufzt. Wenn sie nur gestern Abend nicht Laute gespielt hätte. Dann wären Liha und Dánirah vielleicht weitergezogen, ohne die Hütte zu bemerken. Nun ja, vielleicht hätten sie den Rauch des Feuers gerochen und sie trotzdem gefunden. Plötzlich richtet sich ihre Wut gegen Dánirah. Warum musste die Wahrträumerin ihr das antun und ausgerechnet Liha, den besten Freund ihres Vaters, hierherbringen? Nun bleibt ihr keine andere Möglichkeit, als wieder Prinzessin Talai zu werden und brav an den königlichen Hof zurückzukehren, um irgend einen adligen jungen Mann zu heiraten, der sich von der Verbindung mit dem Königshaus Vorteile verspricht. Da hätte sie auch gleich in Inoira bleiben können!
Ein düsteres Gedankenbild lenkt sie von ihrer Wut ab. Das Kae verdichtet sich neben ihr zu einer schwarzen Kugel. Es strahlt Traurigkeit und Bedauern darüber aus, dass es die unerwünschten Besucher nicht vertreiben konnte. Talai hebt das unglückliche kleine Wesen auf und setzt es in ihren Schoß. Gedankenverloren streichelt sie die unsichtbare pelzige Oberfläche. Nach und nach gelingt es ihr, der kleinen Dunkelheit verständlich zu machen, dass sie ihr keine Vorwürfe macht. Wie hätte das Kae wissen sollen, dass Dánirah ihr zwar willkommen ist, Liha aber nicht?
Da gibt es aber noch etwas anderes, was das Kae beunruhigt. Es befürchtet, Talai werde nun die Suche nach Hilfe für seine Artgenossen aufgeben, um nach Penira zurückzukehren. Es kostet sie große Mühe, dem kleinen Wesen deutlich zu machen, dass das nicht in ihrer Absicht liegt. Aber sie fürchtet, dass Liha sie nicht ohne weiteres ziehen lässt.
Am vergangenen Abend wurde nicht mehr viel gesprochen. Talai erklärte, sie sei müde und wolle schlafen. Sorim und Laiàn, die ihr Unbehagen spürten, legten sich ebenfalls gleich hin. Dánirah und Liha blieb nichts anderes übrig, als das zu akzeptieren. Aber Talai konnte lange nicht einschlafen und als es ihr endlich gelang, schreckte sie immer wieder aus den immer gleichen, bedrückenden Träumen hoch. Deshalb beschloss sie früh, nach draußen zu gehen. Sie weiß genau, dass sie sich mit Liha aussprechen und ihm ihren Standpunkt erklären muss. Allerdings fürchtet sie sich vor der Konfrontation. Obwohl der Berater des Königs keine Krieger mit dabei hat, kann er sie mit Gewalt nach Kelèn zurückschaffen, wenn er will.
Die projizierte Angst des Kae macht Talai darauf aufmerksam, dass sich jemand nähert. Sie lauscht reglos auf die Schritte, die zu schwer für Sorim oder Laiàn sind. Unter den Uferbäume halten Sie inne. Dánirahs Stimme dringt leise durch die Dunkelheit.
«Talai? Darf ich mich zu dir setzen?»
Immerhin kommt die Tanna diesmal allein. Das Kae schlüpft unauffällig unter Talais Jacke. Es ist ein seltsames Gefühl, die kleine Dunkelheit so nahe zu spüren. Sie strahlt einen starken Beschützerimpuls aus. Talai atmet tief durch.
«Von mir aus, wenn es dir nichts ausmacht, nass zu werden.»
«Hör zu, Talai, es tut mir leid, dass dich Lihas Anwesenheit so belastet.»
Die Wahrträumerin setzt sich ungeachtet der Feuchtigkeit neben Talai auf den Boden. Diese schüttelt verständnislos den Kopf.
«Du hast mir selbst gesagt, dass ich hier eine Aufgabe zu erfüllen habe. Nun, wo wir endlich einen Hinweis darauf haben, was überhaupt los ist, kommst du mit dem besten Freund meines Vaters an. Du weist doch genau, dass er mich möglichst rasch zurück in die Palastmauern von Penira schaffen will. Zudem habt ihr die Freunde verscheucht, die zu helfen bereit waren. Ich kann Sorim und Laiàn nicht allein lassen.»
«Niemand spricht davon, dass du sie allein lassen sollst. Wir werden uns um die beiden kümmern. Was hat es mit ihnen auf sich? Wo hast du sie getroffen? Und wo hast du ausgerechnet den Sohn der Königin der Nacht kennengelernt?»
Talai bleibt misstrauisch. Bestimmt ist Sorim nicht bereit, die anderen Kinder in der Mine im Stich zu lassen. Und Liha lässt sie sicher nicht zu dieser Mine ziehen, wenn er herausfindet, wie gefährlich das ist. Deshalb will sie lieber gar nicht davon sprechen, was sie vorhat. Wenn nur He'sha nicht weggelaufen wäre!
Dánirah nimmt Talais Schweigen mit einem Seufzen zur Kenntnis. Talai ist erleichtert, als sie leise Schritte herankommen hört. Die Stille wird unangenehm. Sorim bleibt neben ihr stehen.
«Talai, He'sha und Ushin sind noch nicht zurückgekommen. Bald wird es hell.»
«Ich weiß, Sorim. Ich kann dir leider nicht sagen, ob und wann sie zurückkommen. Wie geht es Laiàn?»
«Sie schläft noch. Der Mann ist weggegangen, aber ohne sein Pferd.»
Talai wirft Dánirah einen Blick zu. Inzwischen ist es hell genug, dass sie die Züge der Tanna erkennen kann. Bald muss sie zur Hütte zurückkehren, damit das Kae sein gewohntes Versteck aufsuchen kann. Dánirah steht auf.
«Liha sieht sich bestimmt nur in der Umgebung um. Lasst uns zurückgehen. Laiàn erschrickt bestimmt, wenn sie aufwacht und niemand da ist.»
Talai nickt und nimmt Sorim bei der Hand. Der Junge hält sie etwas zurück um flüsternd eine Frage zu stellen.
«Traust du ihnen?»
Das ist eine gute Frage. Talai traut Dánirah unbedingt, und eigentlich hat sie auch keinen Geund, Liha zu misstrauen. Trotzdem wäre es ihr lieber, wenn He'sha und Ushin hier wären.

TalaiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt