55 - Ich schaffe es nicht

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Ich renne.

Die Abendluft ist eiskalt und meine Nackten Füße schmerzen vor Kälte, während ich über den eiskalten Rasen renne.

Mein Herz überschlägt sich und ich fange schmerzhaft an, zu keuchen, doch ich ignoriere die brennenden Schmerzen an meinem ganzen Körper und renne weiter. Ich spüre warme Tränen an meinen Wangen, meinem Kinn, meinem Hals. Ich sehe einen Zaun nicht weit entfernt vor mir aber es fühlt sich so an, als könnte ich unendlich lang weiter rennen.

Es fühlt sich endlich so an, als wäre ich frei.

Tim greift nach meiner Hand und drückt sie vorsichtig, während ich ihn wie eingefroren anstarre.

,,Toni, du...er-"

Ich schüttle meinen Kopf. Ich will das nicht hören. Ich kann das nicht hören. Ich kann es nicht. Ich kann nicht mehr.

Ich beginne, laut zu schluchzen.

,,Toni, es-"

Ich drehe mich erneut weg von meinem Bruder, will ihm zeigen, dass er verdammt noch mal aufhören soll, zu reden, doch Tim knurrt wütend: ,,Antonia!"

,,Marco ist nicht tot!"

Ich öffne meine Augen, die ich ängstlich zusammengekniffen habe und starre ihn an.

Tim fährt sich durch die Haare und sagt nun leiser: ,,Man hat ihn erst später gefunden. Er hatte Wunden, überall. In seinem Gehirn war eine Blutung und er hat sich zwei Rippen und das Schlüsselbein gebrochen. Es sah nicht gut aus, er ist nach der Not OP nicht aufgewacht, bis jetzt nicht. Er liegt im Koma."

Ich trete aus versehen auf einen nassen Stock und verliere das Gleichgewicht, wodurch ich vorwärts auf den nassen Rasen fliege. Meine Glieder schmerzen jetzt unerträglich und das Pochen in meinem Kopf ist kaum zu ertragen, doch ich renne weiter. Ich weine, schluchze, keuche, falle aber ich bin noch hier.

Noch bin ich hier.

Ich werde mich nicht verlieren.

Ich darf mich nicht verlieren.

Aber ich tue es. Meine Kehle ist zugeschnürt und statt meinem Herz befindet sich nun ein kalter Stein in meinem Körper. Es fühlt sich so an, als wäre meine Welt stillgelegt worden und das einfach so. Ich habe nichts getan und die Welt tut mir sowas an.

,,Toni, was machst du da?!"

Ich finde mich selbst,während ich meine Infusion abreiße,wieder und stehe auf. Mein Bruder packt mich sanft am Oberarm doch ich reiße mich los.

,,Antonia, ich verstehe ja, dass du- Antonia Stopp!"

Aber es ist zu spät. Ich reiße die Tür meines Zimmers auf, setze einen nackten Fuß auf den kalten Gang und beginne erschöpft, zu rennen. Wo bin ich? In welchem Krankenhaus liege ich? Wo ist Marco?

,,Antonia bleib jetzt stehen!" natürlich hat mich mein Bruder sofort eingeholt und schlingt seine Name nun fest um mich.

Ich beginne zu schluchzen. ,,Lass mich los Tim!"

,,Schwester!" schreit Tim jedoch nur und ich gebe einen heiseren, spitzen Schrei von mir.

,,Lass mich zu ihm!" kreische ich unkontrolliert und werfe mich zur Seite, falle jedoch fast um, weil ich viel zu schwach bin. Alles dreht sich, mein Kopf schmerzt und meine Glieder schmerzen.

Tim hebt mich mit einer Bewegung auf seine Arme und läuft in Richtung meines Zimmers, wo und bereits eine Schwester entgegen kommt.

,,Hey!" ruft mir ein junger Pfleger wütend von der Seite zu, als ich knapp an ihm vorbei, durch einen provisorischen Gartenpavillon und somit geradewegs zur Chirurgie der Uniklinik renne. Ich fühle mich unglaublich schwach, während ich die große, schwere Türe zu mir ziehe und zitternd ins Foyer trete.

Ich weiß es ist gefährlich, zwischen vielen Krankenschwestern und Ärzten nach ihm zu suchen, aber ich kann nicht anders. Ich will ihn finden, ich muss ihn finden.

,,Bitte", sage ich heiser an die Krankenschwester gerichtet, ,,Bringen sie diesen Jungen aus meinem Zimmer."

Geschockt dreht Tim seinen Kopf zu mir und stoßt sich von der Wand, an der er gelehnt war, ab.

,,Was? Toni, du hast..-"

,,Gehen sie bitte" unterbricht die Frau meinen Bruder höflich und drückt ihn leicht in Richtung Tür. ,,Nein! Nein, ich muss auf sie aufpassen, sie wird..-"

,,Gehen sie jetzt bitte oder ich rufe die Security!" erwidert sie nun scharf und knallt endgültig die Tür vor seiner Nase zu. Tim klopft wild gegen die Tür und brüllt Sachen wie ,,Sie wird abhauen!" oder ,,Lass mich zu ihr!", woraufhin die Schwester seufzend ein Handy aus ihrer Tasche holt und eine Nummer eintippt.

,,Security? Ja, Schwester Anna am Telefon, ich befinde mich im siebten Stock im Kopfzentrum, Zimmer 26 B. Ein junger Mann belästigt meine Patientin" erklärt sie ihrem Gesprächspartner und ich schlucke. Eigentlich wollte ich das Tim nicht antun, aber ich sehe keine andere Möglichkeit, ihn wegzubekommen.

,,Danke" schniefe ich gespielt, nachdem Schwester Anna aufgelegt hat.

Sie sieht mich lieb an und macht ein paar Handgriffe, um meine Infusion wieder anzulegen.

Na toll, jetzt muss ich sie mir ein zweites mal vom Arm reißen.

,,Gar kein Problem, meine Liebe. Ist alles okay? Soll ich ihnen ein Glas Wasser oder etwas zu essen bringen?" fragt Anna lächelnd und ich höre, wie Tim sich vor meiner Tür gegen das Mitkommen mit der Security sträubt.

Ich nicke und Schwester Anna verlässt den Raum.

Kopfzentrum, siebter Stock. Nach Tims Beschreibung müsste Marco in der Unfallchirurgie liegen - wenn ich in Dortmund liege, wüsste ich auch, wie ich dort hin komme, aber dazu muss ich das Kopfzentrum verlassen, über die Frauenklinik zur Kinderpsychiatrie und dann zur Chirurgie.

Ich warte, bis Schwester Anna mir mein Wasser und eine Salamisemmel bringt und beginne noch während sie im Raum ist, zu essen. In dem Moment, in dem sie mein Zimmer verlassen hat, spucke ich das Essen wieder in den Mülleimer neben mir und taumle schwindlig zur Tür.

Ich hätte das nicht essen sollen.

Alles an mir schmerzt. Meine Beine, meine Arme, meine Füße, Mein Kopf, mein Hals, meine Finger, meine Zehen, meine Knochen, mein Herz.

Es ist nicht mehr als ein gequältes Husten, das mir entkommt, als ich einen alten Mann nach der Intensivstation fragen will.

,,Junge Dame" er sieht mich besorgt an und will seine Hand heben, wahrscheinlich, um einen Arzt zu holen, aber ich hindre ihn, indem ich krächze: ,,N-nein."

Ich keuche laut und meine Beine wackeln, so stark, dass ich das Gefühl habe, sie jeden Moment zu verlieren.

,,Die.." hustend krümme ich mich und spüre warme Tränen an meinen Wangen. Ich schaffe es nicht, nach der Intensivstation zu fragen, sondern breche an Ort und Stelle zusammen.

..Hilfe!" schreit der Mann nun laut und ich sehe einen jungen Arzt auf mich zukommen.

,,Nein" schluchze ich gequält und spüre, wie meine Augen langsam beginnen, sich zu verdrehen. Der Arzt spricht sanft mit mir und checkt meine Vitalzeichen aber ich nehme das, was er macht, nicht wahr. Denn auf einmal kniet ein braunhaariger Junge mit stechend blauen Augen vor mir und streicht mir vorsichtig meine Haare aus dem Gesicht.

,,Toni" flüstert Noah erstickt.

Ich kann nicht aufhören, zu weinen.

Weil ich unglaubliche Schmerzen habe.

Weil Noah mich so gequält ansieht.

Weil der Arzt Verstärkung ruft und ich wenig später auf eine Liege gelegt werde.

Weil Marco im Koma liegt.

Weil ich es nicht geschafft habe, zu ihm zu gehen.

Weil alles über mir zusammenbricht.

Weil ich zusammenbreche.

Das Herz eines StarsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt