London, England 2017
Von Zeit zu Zeit frage ich mich, wie es sich wohl anfühlt normal zu sein. Auch wenn ich mir überhaupt nicht vorstellen kann, wie das wohl sein mag.
Dabei geht es überhaupt nicht darum, dass ich merkwürdig gehe, eine scheussliche Haarfarbe oder meine Körperhygiene nicht im Griff habe. Viel mehr kann ich mit 100 prozentiger Sicherheit sagen, dass meine Familie nichts Normales an sich hat... Und leider, gehöre ich mit Haut und Haaren dazu.
Wenn man zu einer langwierigen Abstammung von Zeitreisenden gehört, fällt es schwer, ein ordinäres, reguläres Leben, wie alle anderen jungen Mädchen zu führen.
Meine Familie gehört seit langer Zeit zur Elite in unserer Gesellschaft. Und meine Eltern sind felsenfest davon überzeugt, dass das Ansehen beim Londoner Adel alles ist, wonach wir uns richten sollen. Dementsprechend wurden wir auch erzogen.
Jedoch haben nicht alle in unserer Familie die Fähigkeit vererbt bekommen, in der Zeit hin und her zu wandern. Eine Tatsache, die uns sichtlich von allen anderen Zeitreise-Familien unterscheidet.
Meine ältere Schwester ist eine von ihnen, obwohl beide meiner Eltern dazu in der Lage sind. Oft habe ich mir gewünscht an ihrer Stelle statt frei von diesem Irrsinn zu sein, doch inzwischen habe ich mich damit abgefunden. Wenigstens ein bisschen. Aber da nur zwei von fünf Sprösslingen der Sinclair-Familie die Gabe geerbt haben, lag der Fokus meiner herrischen Mutter seit meinem ersten Zeitreise Sprung auf mir.
Der Mond ist gerade aufgegangen. Ich laufe die Stufen des edlen, alten Hauses herunter, ins Studierzimmer. Die Tür steht weit offen, da bereits auf mich gewartet wird.
»Hast du getrödelt?«, lautet die an mich gerichtete Begrüssung. Meine Mutter hat es noch nie über sich gebracht, auch nur ein einziges Mal freundlich Hallo zu sagen, jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern.
»Nein, Mutter. Ich habe mir eine Dusche gegönt«, erwidere ich mit einer hörbaren Gereiztheit in der Stimme. Ich gehe zu ihr an den runden Tisch herüber.
Er ist aus Eichenholz feinsäuberlich gearbeitet, robust, riecht alt aber gut und steht schon seit einer Ewigkeit in diesem Raum. Wie von alleine fahren meine Finger über die eingeschnitzten Muster auf der glatten Oberfläche. Es ist eine Art Ritual, eine Sicherheit mitten im Tumult meiner wilden Gedanken.
»Dann hast du offenbar beim Duschen getrödelt«, erwidert sie ebenso genervt, »denn jetzt ist viertel nach und du solltest vor fünfzehn Minuten hier sein.«
»Wie auch immer, Mutter.« Ich schnaufe hörbar angestrengt aus, damit sie merkt, wie sehr ihre ständigen Nörgeleien an meinen Nerven zerren.
Mein ehrenwerter Vater tritt hinter einem deckenhohen Bücherregal hervor, sieht mich mit einem tadelnden Blick an. »Emma, bitte. Du weisst doch, was hier auf dem Spiel steht.«
Ich seufze und verdrehe die Augen. »Den Einfluss im Zirkel und eine Menge Geld, was sonst? Ich weiss, wie dieses Spiel läuft.«
Meine Mutter seufzt ihrerseits, faltet ihre Hände und wippt mit dem Kopf. Eine deutliche Geste; eine Aufforderung meiner Bestimmung als Zeitreisende dieser Familie nachzukommen.
Ich trete hinters Bücherregal und fasse mir an den Hals, dort wo der Anhänger baumelt und berühre die Schriftrolle vor mir. Am oberen rechten Rand steht das Datum des besagten Tages. Ich schliesse die Augen und spüre, wie sich die Materie meines Körper verflüssigt, zu Nebel und schliesslich zu Staub wird.
Ich mache die Augen nicht auf, um einen letzten Blick auf meine fordernden Eltern zu werfen, habe nur das verhasste Ziel vor Augen. Die eine Sache, die ich zu erledigen habe, damit meine Familie mich endlich frei lässt.
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Shadow of Past - Band I
FantasyEmma Sinclair fühlt sich durch die unerbittliche Strenge ihrer Mutter, der ständigen Forderung ihres Vaters und der Jahrhunderte alten Bürde, die auf ihr lastet, mehr und mehr einsam und verwirrt. Sie weiss nicht, wer sie ist und wohin sie gehört. S...