Stranger Things

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Sobald ich das Gebäude betrete, stürmt bereits meine jüngere Schwester auf mich zu und packt mich hart an den Oberarmen.

»Ava, was soll das denn?«, frage ich sie, überrascht von ihrer ungewohnten Hektik.

»Es ist etwas Wichtiges«, erwidert sie. »Ich muss dich sofort zum Zirkelführer bringen.«

Ich verstehe nicht, wovon sie spricht. Aber wenn der Führer will, dass ich anwesend bin, sollte ich besser keine Fragen stellen.

Also laufe ich ihr geschwind nach und überlege mir, was ich wohl verbrochen haben könnte. Man bekommt nicht jeden Tag eine Audienz beim Führer und wenn, dann hat es meist nichts Gutes zu bedeuten. Was habe ich getan?

Wir nehmen den schnellsten Weg durch die uralten Gemäuer; wenn man ganz nah an den Stein heran geht riecht es etwas modrig. Doch im Gebäude ist es warm und auch einigermassen gemütlich. Die vielen bequemen Sessel und Chaise-Long lassen alles um einiges sympathischer wirken, obwohl es einen noch immer gruseln konnte, wenn man das erste Mal seine Füsse über die Schwelle setzt.

Wir laufen den langen Korridor entlang, dessen Seiten von geschlossenen Türen gesäumt sind, welche alle zu wichtigen Büros von wichtigen Leuten führen.

»Was ist denn los, Ava?«, frage ich sie erneut, doch sie antwortet nicht, lächelt mich bloss wissend an.

»Herein!«, ruft eine dunkle, tiefe Männerstimme, nachdem meine Schwester leise angeklopft hat.

Wie uns geheissen, treten wir ein. Das Büro des Zirkelführers ist geräumig, ordentlich aufgeräumt und blitzsauber. Wie immer verstört mich der Anblick dieses Raumes, wie auch der Mann, dem sie gehören.

»Ah, wie schön, dass Sie meinen Anweisungen so schnell nachgehen konnten«, begrüsst er uns lächelnd. »Vielen Dank, Miss Ava, dass Sie Ihre Schwester zu mir brachten. Sie dürfen nun gehen.«

Ava nickt gehorsam und verlässt das Büro augenblicklich.

»Miss Sinclair«, beginnt der Führer und ich befürchte bereits das Schlimmste. »Ich habe von Ihren Eltern erfahren, dass Sie den Auftrag übernommen haben, welcher Ihrer Familie vor einigen Monaten zugeteilt wurde. Sie konnten diesen erfolgreich zu Ende bringen?«

Zuerst bin ich verwirrt, und auch ein wenig verängstigt. Von dem einen Auftrag, der eine, über den ich alleine Verantwortung trage, ist nämlich geheim. Streng geheim. Wenn irgendjemand, besonders jemand aus dem Zirkel wüsste, was ich da mache, würde meine Familie für immer ihr Ansehen verlieren.

Wir würden alles verlieren, vermutlich sogar unser Haus. Und das darf auf keinen Fall passieren, denn vor beinahe 200 Jahren ist dies schon einmal beinahe passiert. Aber um ehrlich zu sein, weiss ich noch immer nicht, wofür ich mein Leben überhaupt auf's Spiel setze. Für meine Familie? Oder doch eher für den Stolz und die Ehre meiner Familie?

»Oh, aber selbstverständlich«, stimme ich brav nickend zu.

Der Führer nickt seinerseits zufrieden. »Ich hoffe, Ihnen und Ihrer Familie ist bewusst, welche Möglichkeiten Ihre Leistungen nun für euch alle offen hält. Die Ehre Ihrer Familie wurde wiederhergestellt.«

Ich nicke, versuche jedoch mir eine freche Bemerkung zu verkneifen.

Es fällt mir schon immer schwer, mich hier einzufügen. Generell fällt es mir schwer, mich irgendwo einzufügen. Aber wir alle wissen, dass sich überhaupt nichts an den Verhältnissen ändern wird, wie meine Familie zu leben hat. Mit welchem Gespött, Hohn und Verachtung wir tagtäglich von der restlichen Zeitreise Gesellschaft behandelt werden.

Der Führer hebt die Hand, sichtlich zufrieden mit meinem Gehorsam und entlässt mich somit aus dieser überaus unangenehmen Situation. Schnell stehe ich auf und verabschiede mich höflich, dann verlasse ich das unheimliche Büro.

Sobald ich wieder auf dem Flur stehe, atme ich erst einmal tief durch. Dieser Mann ist mir unheimlich. War er schon immer.

Ich gehe zurück in Richtung Eingangshalle, wo ich in einem Nebengang verschwinde und die Bibliothek betrete. Gedanklich versuche ich mich vom Zirkelführer zu lösen und mich auf die mir bevorstehende Aufgabe zu konzentrieren: Zeitreisen!

»Miss Emma, wie schön Sie zu sehen«, ruft Ms. Anton, die zuständige Bibliothekarin.

»Ich freue mich auch«, sage ich lächelnd.

»Suchen Sie erneut persönliche Schriftstücke von Miss Sin- «, doch sie kommt nicht dazu, ihre Frage zu beenden, denn ich packe sie hektisch am Arm, sobald ich Fremde in der Bibliothek bemerke. Ein weiterer Abgeordneter des inneren Zirkels läuft gemächlich mit einem jungen Fremden, den ich niemals zuvor zu Gesicht bekommen habe, durch die Reihen der Regale.

»Wir kommen später darauf zurück«, flüstere ich Ms. Anton zu und versuche mich vergeblich an den wahnsinnig wichtigen Leuten vorbei zu schleichen.

»Miss Emma Sinclair«, spricht der Abgeordnete mich an. Seine Stimme klingt ein wenig herablassend und eiskalt, wie üblich. Die meisten hier verachten mich, da ich die Repräsentantin meiner Familie bin und die meisten Zeitreisenden jeglichen Respekt vor uns verloren haben.

Ich lasse den Versuch mich davon zu schleichen unversucht, es wäre sinnlos gewesen und ausserdem sehr unhöflich. Meine Mutter hätte mich umgebracht.

»Wie geht's der Familie?«

»Hervorragend, danke der Nachfrage«, sage ich ebenso kalt. Auch dafür hätte ich Ärger bekommen, andererseits bin ich schliesslich die Einzige, die sich mit diesen aufgeblasenen Idioten auseinandersetzen muss.

»Nun, darf ich Ihnen vorstellen: Fionn Mckenzie.«

Von Nahem habe ich ihn sofort erkannt: Er gehört zu einer sehr berühmten Familie Zeitreisender aus Schottland. So weit ich weiss sind alle Kinder dieser Familie fähig in der Zeit zu reisen, in allen Generationen.

»Ja, ich weiss über die Mckenzie's Bescheid«, sage ich. »Was führt Sie nach London, Sir?«, frage ich an ihn gerichtet.

Er sieht mich einen Moment nur an, er scheint ein wenig verwirrt. Vermutlich liegt es an den Haaren; nicht selten fragt man mich wieso ich die Einzige seit sieben Generationen bin, die keine dunkelbraunen Haare hat. Stattdessen bin ich blond, beinahe weissblond. Oder möglicherweise findet er meine Direktheit frech und ist sich solche Umgangsformen nicht gewohnt.

»Familiengeschäfte, Miss Sinclair.«

Ich hebe eine Augenbraue. Noch so ein arroganter Schnösel, der sich einer richtigen Antwort mir gegenüber offenbar zu Schade ist, wunderbar.

Allerdings war mir bislang nicht klar gewesen, dass der beschadete Ruf meiner Familie bis nach Schottland gedrungen ist. Dass dieser Knilch so mit mir umspringt, finde ich mehr als nur ungeheuerlich.

»Na dann«, sagt der Abgeordnete, als hätte er Angst, ich könnte ihn und den Londoner Zirkel blamieren. »Sagen Sie Ihrem Vater, er soll sich mal wieder in der Öffentlichkeit zeigen. Er wird hier sehr vermisst in seiner alten Position.«

Ich nicke, wohlwissend dass ich das niemals tun werde.

Sie gehen an mir vorbei, wobei der Mckenzie Nachkomme mir einen langen, intensiven Blick zuwirft.

»Na toll«, murmle ich vor mich hin.

Shadow of Past - Band IWo Geschichten leben. Entdecke jetzt