»Das ist irgendwie merkwürdig«, murmelt Fionn. Er murmelt es schon seit dem ungefähr tausendsten Mal, weshalb ich nicht darauf reagiere.
Doch als er wie vom Blitz getroffen aufspringt und in den Regalen, welche am nächsten zur Geheimtür stehen, nach etwas stöbert, schaue ich irritiert auf.
Ich für meinen Teil habe nicht sehr viel mehr als die Bestätigung gefunden, dass es tatsächlich Zeitreisende gegeben hat, die ohne materiellen Anhaltspunkt gesprungen sind. Also nichts, dass wir nicht schon wussten.
»Was ist los?«, frage ich ihn, nachdem er zwar zu mir zurückgekehrt, jedoch kein einziges Wort gesagt hat.
»In einem der Bücher habe ich die Beschreibung besonderer Zeitreisenden gefunden. Unter anderem ist beschrieben, dass diese bestimmte Mutation, wie es genannt wird, nur bei Frauen auftritt. Sie sei anscheinend genetisch vererbbar, jedoch habe man für diese Vermutung niemals einen Beweis feststellen können«, beginnt er. In seiner Stimme höre ich den Eifer und die Freude darüber, endlich mal etwas gefunden zu haben, dass allem Anschein nach zu etwas führt.
»Okay, und was soll das für eine Mutation sein?«, hake ich nach, nicht vollkommen überzeugt von seinem gefundenen Wissen.
Fionn blättert in dem eben geholten Schriftstück herum. »Eine Mutation, die es besonderen, weiblichen Zeitreisenden erlaubt, die Möglichkeiten des Reisens individuell zu erweitern«, antwortet er.
Ich runzle die Stirn. Was soll das denn bedeuten?
Da ich nichts auf seine Antwort erwidere, sieht er lächelnd auf und hebt das andere Buch mit aufgeschlagener Seite an, welches er davor durchgelesen hatte. Er zeigt die Stelle, die er als wissenswert empfunden hat. »Hier ist die Situation eines jungen Mädchens beschrieben, dass in die Zukunft gehen kann.«
Ich hebe überrascht die Augenbraue. »Das ist unmöglich.«
»Ach, meinst du?« Er lächelt noch etwas breiter. »Immerhin hast du das doch auch getan.«
Ich schüttle den Kopf. »Das war doch komplett anders... Ich bin davon ausgegangen, dass das nur möglich gewesen ist, weil ich von Zeitreisenden mitgenommen wurde, die aus besagter Zeit stammten.«
Fionn nickt. »Dennoch ist es eigentlich nicht üblich. Wie konnte ich das nur übersehen?!«
Ich denke darüber nach. Falls ich eine dieser besonderen, weiblichen Zeitreisenden bin, wieso hat sich das davor nie bemerkbar gemacht? Und dennoch, was haben diese grusligen Male zu bedeuten? »In Ordnung, sagen wir Mal, es ist so, und ich kann die Regeln des Springens auf eine unwissentliche Art für mich verändern... Woher kommt das? Und wieso habe ich es bis vor wenigen Tagen nicht benutzt, bzw. nicht bewusst benutzen können?«
Fionn sieht mich an. Sichtlich unglücklich darüber, dass ich seinen Erfolg durch weitere Fragen zunichte mache. Beinahe habe ich Mitleid mit ihm, wenn es nicht die Wahrheit gewesen wäre. »Ich weiss es nicht. Aber vielleicht finden wir die Antwort in diesen Büchern.«
Ich sehe auf die kleingeschriebenen Zeilen nieder, und versuche mir vorzustellen, dass all diese Worte die Lösung für diese unerträgliche Verwirrung und Unwissenheit sein sollen. Es kommt mir unmöglich vor.
»Ich habe dieses Buch gefunden, hinter eindutzend anderen, verstaubt und in Vergessenheit geraten: Hier werden die Zeitreisenden beschrieben, die, wie Freya und du, die bisher gekannten Regeln des Zeit-Raum-Kontiium vollkommen verändert haben und ohne Hilfe springen«, meint er nach einer weiteren endlosen halben Stunde. »Ich glaube, die Menschen unserer Art wollten nie, dass solche Fälle publik werden, denn...«
»Was?«
Fionn wirft mir einen skeptischen, vorsichtigen Blick zu. »Jene Frauen, die das konnten, wurden überall gejagt und schließlich getötet.«
Ich schnaube. Das kann doch echt nicht sein Ernst sein. »Na, das ist doch mal eine erfrischende Neuigkeit: Eine Gruppe mehr die mich umbringen will!«
Ich erhebe mich aus einer steifen Position, in der ich gefühlte Stunden verbracht habe. Diese neugewonnene Neuigkeit erlaubt es mir nicht, still sitzen zu bleiben. Am liebsten hätte ich die Wände heruntergerissen, geschrien, laut geschrien, nur um irgendetwas loswerden zu können. Vielleicht Frustration über den Verlauf meines Lebens; wie unfair das alles doch ist. Wut, weil meine Eltern offensichtlich total versagt haben, bei dem halbpatzigen Versuch mein Leben zu retten.
Ich gehe langsam, innerlich jedoch brodelnd, herüber zu dem Regal, welches Fionn als letztes durchsucht hat. Ich sehe die grosse, tiefe Lücke, in der er nach dem Buch gegraben hat, welches er jetzt in den Händen hielt. Und dann gucke ich aus reiner Neugierde hinein und da, tief hinten, ans Ende des Regals gedrückt, steht eine kleine Schatulle.
Ich greife mit der Hand hinein und ziehe sie langsam und vorsichtig hinaus ans Freie. Sie ist verstaubt und sehr alt, dass kann ich sofort erkennen.
Mit der Schatulle in den Händen kehre ich an den Tisch zurück, setze mich aber ans gegenüberliegende Ende von Fionn. Ich hebe den Deckel an, der mit einem kleinen Riegel verschliessbar ist. Nachdem ich den Riegel beiseite geschoben habe, offenbart sich das Innere der Schatulle: Es ist ein winzig kleines, in rotes Leder eingebundenes Notizbuch. An den Rändern der Schatulle sind einige Silberketten verstreut, mit beinahe farblosen Edelsteinen als Anhänger.
Springeramulette!, denke ich erstaunt. Man sagte mir einst, dass die Edelsteine ihren Glanz und Farbe verlieren, und selbstverständlich auch ihre Magie, wenn ihr Träger verstirbt.
Ich lasse die Silberketten liegen, wo sie sind und nehme stattdessen sehr behutsam das kleine Notizbuch heraus. Es fühlt sich brüchig an in meinen Händen, also versuche ich so vorsichtig wie möglich zu sein.
»Was hast du da?«, fragt Fionn, der wohl endlich gemerkt haben muss, dass ich etwas gefunden habe. Er kommt ohne auf meine Antwort zu warten zu mir herüber und setzt sich gleich neben mich.
»Diese Schatulle lag ganz hinten, versteckt hinter dutzenden von Büchern. Siehst du diese Amulette?«, sage ich zu ihm, wohl wissend, dass er erkennt, was es damit auf sich hat.
Fionn schweigt, ebenso wie ich, während ich das Notizbuch aufklappe, welches ebenfalls mit einem kleinen Riegel an der Vorderseite verschlossen werden kann.
Die erste Seite ist per Hand geschrieben, alles in unterschiedlichen Handschriften, und entpuppt sich als Auflistung sechs verschiedener Namen und ihr Geburtsjahr. Alles weibliche Namen und bei einigen ist selbst das Todesjahr aufgezeichnet worden. Bei eigentlich allen Frauen, ausser bei einer; der Letzten.
Die Schrift ist krakelig, klein und wegen den vielen Jahren ihrer Existenz sehr verblasst. Doch als ich schliesslich den Namen entziffern kann, halte ich geschockt, überrascht und auch irgendwie erbost den Atem an. Ich kann es einfach nicht glauben.
Freya Anne-Marie Sinclair
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Shadow of Past - Band I
FantasyEmma Sinclair fühlt sich durch die unerbittliche Strenge ihrer Mutter, der ständigen Forderung ihres Vaters und der Jahrhunderte alten Bürde, die auf ihr lastet, mehr und mehr einsam und verwirrt. Sie weiss nicht, wer sie ist und wohin sie gehört. S...