Gehorsam

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Ich wache durch das unersättliche Hämmern meiner Mutter gegen meine Schlafzimmertür auf. Überraschenderweise erwache ich davon nur langsam und träge, sodass ich einen Moment der Orientierung brauche, als ich das laute Hämmern wahrnehme. 

Die Angst darauf folgt in Sekundenschnelle, sodass es sich anfühlt, als ob mein Herz mir sogleich aus der Brust zu springen wagt. Einen Moment überlege ich mir, ob ich sie einfach ignorieren und mir einen schnellen Fluchtweg aus dem Fenster sichern soll. Aber dann wird mir klar, dass das nichts bringen würde. Irgendwann müsste ich Nachhause kommen und dann wäre sie trotzdem immer noch da und verlangt Gott weiss was von mir.

Abgesehen davon wäre meine Mutter vermutlich die einzige Person auf diesem Planeten, die mich überall aufspüren könnte. Ganz egal, wo ich mich verstecke.

Also stehe ich auf und schleppe mich mühselig zur Tür. Ich öffne und sehe eine beinahe rotgewordene Furie vor mir stehen, die mich ansieht, als würde sie mich jeden Moment eigenhändig erwürgen. 

»Mutter. Guten Morgen.«

»Wo warst du gestern?«, fragt sie mich ohne den Gruss zu erwidern. Ihre Stimme ist angespannt und aggressiv zugleich. Ich bin unsicher, was davon tatsächlich schlimmer ist; ihre Wut bin ich gewohnt, aber Spannung bedeutet nie etwas Gutes. 

»Ich dachte, es wäre in Ordnung, wenn ich mir eine kleine Pause von dieser wahnsinnig penetranten, aufdringlichen und nervigen Familie gönne«, erwidere ich, wohlwissend, dass solche Worte nicht unbedingt förderlich dafür sind, dass meine Mutter sich nicht weiter über mich aufregt. Aber eigentlich ist es mir komplett egal.

»Nun, da hast du falsch gedacht, junges Fräulein. Ich will alles über deine Reise hören, sofort!«, verlangt sie und sieht mich noch wütender an, als vorher.

»Herrgott, Mutter. Ich war in der Vergangenheit, 1921, oder so. Bei unseren Verwandten. Und jetzt lass mich in Ruhe, du musst nicht jeden Aspekt meines Lebens bis ins kleinste Detail kontrollieren. Das ist krank«, ich schreie beinahe, dann schlage ich die Tür wieder zu und schliesse ab.

»Komm sofort da raus, Emma Louisa! Du wirst heute im Hauptgebäude erwartet. Ich verlange von dir, dass du deine Pflicht gegenüber deiner Familie erfüllst.«

Ich schliesse die Augen, um Fassung ringend und schnaubend vor aufgestauter Frustration. Eigentlich geht meine Mutter davon aus, dass mir aggressive Wutausbrüche vollkommen abtrainiert wurden, die ich als Kind zu hegen pflegte. Allerdings verspüre ich von Zeit zu Zeit bei solchen Gelegenheiten noch immer eine beinahe atemberaubende Wut, die mich zu erdrücken scheint. Und dann würde ich am liebsten wie eine Irre gegen die Tür hämmern, bis meine aufdringliche Mutter verschwindet und ich all die unausgesprochenen Gedanken hinausgeschrien habe, die mich so belasten.

»Emma! Komm da raus. Du wirst im Salon erwartet, schon vergessen? Tanztraining!«, fährt sie fort, wutentbrannt schreien, wie ich mich fühle.

Ich seufze und spüre, wie Resignation der zerstörerischen Wut weicht. 

Tanztraining. Na klar.

Das hatte ich tatsächlich komplett vergessen und ist das Letzte, worauf ich jetzt Lust habe. Aber da ich genau weiss, dass es nichts bringt, mich weiterhin gegen den Willen meiner herrischen Mutter zu sträuben, bleibt mir nichts anderes übrig. Also atme ich tief durch, schüttle meine zu Fäusten geballten Hände aus und mache dann die Tür erneut auf. 

Ich lächle übertrieben breit, sodass sie auf jeden Fall merkt, wie sehr ich dieses Theater verabscheue. »Natürlich Mutter!«, keife ich. »Lass mich doch bitte kurz etwas Angemessenes anziehen.«

Mit dieser Antwort scheint sie sich zufrieden zu geben, denn sie dreht sich nach einem langen, skeptischen Blick auf meine Wenigkeit schliesslich um und geht. Ich knalle die Tür so laut zu, wie ich nur kann, dann mache ich mich daran meiner sogenannten Pflicht nachzukommen und ziehe mich an.

Endlich unten angekommen, sehe ich mit grosser Zufriedenheit, dass nicht nur meine Mutter rot angelaufen ist vor Wut, sondern auch mein Tanzlehrer. Er wippt in aggressiver Haltung mit seinem Fuss auf dem Parkett auf und ab und da an seinen Schuhen tatsächlich kleine Stallkappen befestigt sind wie bei einem Stepper, macht die Bewegung ein ekliges Geräusch.

»Miss Emma! Ich muss Sie doch sehr rügen, junges Fräulein. Nach jahrelanger Übung, Schweiss und Schmerz, sollten wir doch wohl endlich in der Lage sein, diesen Unterricht rechtzeitig zu beginnen«, sagt dieser, in einem merkwürdigen Akzent. Es hat mich beinahe zwei Jahre gekostet, bis ich diesen in die Jahre gekommenen Herren als Italiener identifizieren konnte.

Vielleicht habe ich diese fiesen Blicke aber auch echt verdient. Ich komme oft zu spät. Ich mache oft nicht richtig mit. Aber hauptsächlich nur, weil es mich entweder extrem langweilt und ich schon ausgezeichnet tanzen kann oder weil das Rebellieren bei solchen Treffen privater Natur das einzige ist, das mir noch geblieben ist.

»Ich entschuldige mich endlos«, erwidere ich. Uuuuund schon beginnt die Langeweile!

»Das sagen Sie jedes Mal, aber ich verliere das Vertrauen, Signorina«, gibt er als Antwort, klatscht zwei mal in die Hände und bedeutet mir mit einem strengen Kopfnicken, dass ich mich in Stellung bringen soll. 

Ich tue, was er will und sehe mit Freude, dass meine Mutter den Raum verlässt, nicht ohne über die Schulter zu zischen: »Nach dem Tanztraining holt unserer Fahrer dich ab, da dich dein Kampftrainer im Hauptgebäude erwartet. Streng dich an, ich will mich nicht für dich schämen müssen.«

Ich weiss nicht was ich darauf erwidern soll, denn ihre Worte schmerzen irgendwie - tief in meinem Inneren. Ich kann es nicht beschreiben, denn im Laufe der Jahre, habe ich mich sehr gut daran gewöhnen können, wie meine Eltern mit mir umspringen. 

Dennoch gibt es Dinge, die niemals aufhören sich mies anzufühlen. Denn wenn ich daran denke, wie viel ich für diese Familie riskiere und was ich dafür zurückbekomme, erscheint mir nichts davon für angemessen. Zudem ich nicht einmal selbst begreife, wie viel ich eigentlich auf's Spiel setze, da meine Eltern mich nicht einmal für vertrauenswürdig genug erachten, um mir die ganze Wahrheit zu sagen.

Vor besagten 200 Jahren hat eine meiner Vorfahrinnen - namens Freya Sinclair - diesen einen schrecklichen Fehler begangen, der die gesamte Familie für immer ins Unglück stürtze. Ich glaube, damit hat niemand so wirklich gerechnet. Sie am allerwenigsten.

Im frühen 19. Jahrhundert standen die Dinge noch anders, vor allem für Frauen. Vor allem für Frauen, die etwas zu verbergen haben. Wenn man in dieser Welt des Zeitreisens nicht funktioniert und seinen Platz im fortlaufenden Familienrädchen nicht übernimmt, hat man schnell mit Konsequenzen zu rechnen. In England wird die Familienpflicht an die erste Stelle gestellt, ganz gleich welche Interessen man abgesehen davon noch zu verfolgen scheint. 

Die englische Gesellschaft der Zeitreisenden kann es also überhaupt nicht leiden, wenn eine junge Frau einer hoch angesehenen Familie von Zeitreisenden ihren eigenen Weg zu gehen versucht und dabei alle Aufträge ihrer Familie sausen lässt. Freya Sinclair hat nicht nur ihre Pflicht ihrer Familie und der Gesellschaft gegenüber vernachlässigt; sie tat dies vorsätzlich aufgrund eines schottischen jungen Herrn, der keinerlei Ansehen im Kreis der Engländer hatte. 

Meine Aufgabe ist es, herauszufinden, was Freya dazu getrieben hat, ihre Familie und ihr Land zu verraten. Ein beinahe aussichtsloses Unterfangen, wenn man bedenkt, dass ich nicht mehr weiss, als das.

Oh, und natürlich die Tatsache, dass sie von den damals wahnsinnig skrupellosen englischen Aristokraten auf den Scheiterhaufen geworfen wurde und es damals als allgemeine Hexenverbrennung durchgegangen war.

Meine Eltern erzählten mir zu Beginn meiner ersten Reise, dass Freya sich anscheinend in diesen jungen Mann verliebt hatte, jedenfalls wird es so voller Verachtung erzählt. Er war ein Fraser. Noch so eine Familie, mit denen die unsere seit Gedenkzeiten konkuriert.

Ihre folgenden Taten wurden nicht nur ihr selbst zum Verhängnis, sondern der gesamten Familie, die ihre Missetaten nun schon seit Jahrhunderten auszubügeln versuchen. Fortan gehöre auch ich dazu.

Oft habe ich mich gefragt, ob sich ihre Opfer für diesen Mann tatsächlich gelohnt haben? Hat es sich gelohnt für die Liebe ihre gesamte Familie und ihr Land zu hintergehen? Hätte er dasselbe für sie getan? 

Shadow of Past - Band IWo Geschichten leben. Entdecke jetzt