Rückkehr

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Als ich ihn sehe, weiss ich, dass er mir etwas verheimlicht. Ich kann es beinahe in seinen Augen ablesen; die ekelhafte Verschwiegenheit, die mühseligen Geheimnisse, die sich in meinem Leben aufzutürmen scheinen und sich niemals zu vermindern scheinen.

Ich drehe mich um, als er den Flur entlang geht. Unsere Blicke begegnen sich für einige Sekunden, dann sieht er weg und verschwindet schweigend in der Bibliothek.

Vielleicht will ich gar nicht wissen, was er dieses Mal vor mir zu verbergen versucht...

Vielleicht. Wäre da nicht der wissende Gedanke, dass es dabei um mich geht. Ich kann es an seinem mitleidigen Blick erkennen, den er mir immer zuwirft.

Inzwischen bin ich sogar zu müde, um mich darüber aufzuregen. Andererseits hätte auch Jedermann, der mir etwas über mich selbst verheimlicht, es verdient, dass ich eine Szene feinster Art abliefere.

Ich schüttle den Kopf und versuche die üblen Gedanken dadurch abzuwerfen. Wenn es möglich wäre, würde ich mir sogar die Haut von meinem Körper ziehen, wie es Schlangen tun. Alles Alte und Verbrauchte abschütteln, bis sich ein Gefühl des Neu-Starts in meinem Inneren einfindet.

Möglicherweise könnte ich dann akzeptieren, was in letzter Zeit in meinem Leben alles geschehen ist.

Ich gehe durch die Küche, deren Standort ich erst gestern herausgefunden habe, um mir einen Apfel aus der grossen Schale auf dem Tisch zu holen. Dann verlasse ich das grosse, altertümliche Haus und trete hinaus in die belebende, windige und sehr regnerische Natur.

Ich habe viele Stunden der letzten paar Tage hier draussen verbracht, und bin schliesslich zu dem Schluss gekommen, dass dieser Anblick die Mentalität der Landschaft ganz gut zu mir passt.

Genau wie ich ist sie rau, ungebändigt, voller scharfer Kanten und ungestüm. Niemals kann ich voraussagen, was hier als nächstes passiert. Und so sieht es wohl auch momentan in meinem Leben aus...

Ich laufe eilig den Hügel hinauf und setze mich schliesslich ins bereits plattgetretene Gras, wo Fionn und ich uns gegenseitig bekämpften. Ich ziehe das Buch unter meiner Wetterfesten Jacke hervor, welches ich vor der Rückkehr von Fionn aus der Bibliothek geklaut habe. Es ist alt, der Einband seidig weich, aber auch ein wenig brüchig, sodass ich beinahe Angst davor habe, es zu öffnen.

Aber als ich es öffne, sehe ich ein Bild. Es wurde wohl vor langer Zeit hinein gelegt, denn es gehört eindeutig nicht zum ursprünglichen Buch dazu. Ich nehme es heraus: Darauf abgebildet ist eine junge, wunderschöne Frau, mit strengem Blick und streng zurückgekämmten Haaren. Ihre kühlen Augen sagen aus, dass sie bereits eine Menge in den wenigen Jahren ihres Lebens gesehen hat. Sie trägt ein ungewöhnliches Kleid, mit Korsett und viel Stoff, wie es die Menschen in früheren Jahrhunderten taten.

Ich hebe irritiert die Augenbrauen und bin ein wenig verwirrt. Denn obwohl die Frau eindeutig altertümliche Kleidung trägt, ist dies eine Fotografie. Irgendetwas passt also nicht zusammen.

Aus Neugier drehe ich das Foto um, welches bereits vergilbte Ränder hat. Auf der Rückseite der Fotografie ist nichts weiter zu erkennen, abgesehen von einer Zeile, geschrieben in feinsäuberlichen, kleinen Buchstaben: Mary Stuart, Queen of Scots.

Ich ziehe scharf die Luft ein. Das ist unmöglich, denke ich verwirrt. 

Aber dann kommt mir der Gedanke, dass wir aus der Zukunft Gegenstände mit uns transportieren können, wenn wir springen. Es muss jemand zurückgesprungen sein und ein Foto von der schottischen Königin geschossen haben. Wie unwirklich...

Ich hebe das Foto noch ein kleines Stückchen höher an und sehe mir das Gesicht genau an, welches angeblich meine Mutter sein soll. Sie wirkt nicht sonderlich glücklich, allerdings kann ich das schlecht beurteilen, immerhin kenne ich sie nicht.

Andererseits ich kann mir gut vorstellen, dass sie kein leichtes Leben führt.

Ich muss den Blick abwenden, als mir Tränen in die Augen treten. Ein merkwürdiges Gefühl macht sich in meiner Brust breit; möglicherweise überkommt mich die blanke Sehnsucht, doch genau kann ich es nicht sagen. Ich fühle mich hilflos gefangen in den wild, herumwirbelnden Gefühlen in meinem Inneren.

Aber dann werde ich erneut so wütend, dass ich am liebsten wild herausgeschrien hätte und ich muss aufstehen, um nicht zu implodieren.

Anstelle darüber nachzudenken, gehe ich den Hügel herunter, renne beinahe, und stürme ins Haus. Wie eine Bombe explodiere ich in die Bibliothek hinein und sehe ihn herausfordernd an.

»Was ist denn mit dir passiert? Wurdest du von einem wilden Tier angegriffen?«, fragt Fionn, auf dem Sessel sitzend, halb im Scherz, halb ernst.

»Ich will sie sehen«, ist alles, was ich ihm als Antwort gebe.

Shadow of Past - Band IWo Geschichten leben. Entdecke jetzt