Nachdem ich in die Schuhe geschlüpft bin, reicht sie mir noch prunkvolle Ohrringe, zwei dazu passende Armbänder und eine kleine Handtasche, in die nicht mehr reinpassen wird als ein paar Taschentücher, Lippenstift und die Hausschlüssel. Sie hat einen runden Bauch und besteht ganz aus mit perlen besticktem Stoff. Sie ist wirklich sehr hübsch und passt toll zu meinem Kleid.
Nach weniger als einer halben Stunde scheint es, als wären wir Aufbruchbereit. Louisa geht voraus, da wir uns ganz gekonnt aus dem Haus zu schleichen versuchen.
Ihr Vater hatte sie letzte Woche bereits einmal dabei erwischt, wie sie sich wieder ins Haus zurückschlich und deshalb hatte sie strengstes Ausgehverbot. Wir müssen also besonders leise sein.
Sobald wir es aus dem Haus geschafft hatten, ohne bemerkt zu werden, beginnt Louisa lauthals zu lachen.
»Solche Ideen lassen mich meist etwas ungestüm werden. Komm, ich weiss, wo wir heute hingehen.« Sie nimmt mich bei der Hand und rennt beinahe den Bordstein entlang.
Ganz egal wie oft ich schon in die Vergangenheit gereist bin, ich bin immer wieder beeindruckt von den Veränderungen. Und ich kann nicht verstehen, wie die Menschheit sich so schlecht entwicklen konnte. Diese Zeit ist wunderbar: Die Menschen sind frei, wild und geniessen das Leben in vollen Zügen. Die Autos fahren an uns vorbei, andere junge Pärchen passieren unseren Weg und begrüssen uns freundlich. Ich hätte nichts dagegen, in dieser Zeit geboren zu sein.
»Sag mir eines, Emma. Wieso bist du die einzige aus deiner Zeit, die mich immer wieder besuchen kommt?«, fragt sie, als wir auf dem Weg in eine mir bekannte Bar gehen. Ich glaube mich zu erinnern, dass sie sich in meiner Zeit Purl nennt und noch immer im 20er Style gehalten wird.
»Keiner meiner Geschwister hat die Gabe in der Zeit zu reisen, ausser meine jüngere Schwester Ava. Jedoch ist es ihr nicht möglich, weiter zurückzugehen als zehn Jahre«, erkläre ich Louisa.
Sie runzelt die Stirn. Das erste Mal heute Abend, dass sie nicht aufgeregt oder freudig ist, sondern ernst. »Das ist merkwürdig. Die Sinclair-Familie war immer sehr bekannt dafür, dass wir begabte, fähige Zeitreisende hervorbringen.«
Ich nicke bestärkt. »Ja, ich weiss. Es ist auch eine Art Skandal inzwischen. Deshalb sind Mutter und Vater auch so streng zu mir, da ich die Einzige bin, die tatsächlich etwas bewirken kann.«
Louisa schüttelt missbilligend den Kopf. »Das tut mir leid, liebe Emma. Ich kann mir vorstellen, wie anstrengend und einsam das ist. Ich kann diese Bürde mit vier Geschwistern teilen, Gott sei dank.«
»Nun, in letzter Zeit scheint sich unsere Familie mehr und mehr verfahren zu haben. Und ich kann die Situation nicht wirklich in den Griff bekommen«, sage ich vorsichtig zu ihr. »Weisst du denn mehr, über die Ereignisse von vor 200 Jahren? Ich würde gerne wissen, wofür ich tagtäglich meinen Kopf riskieren.«
Louisa sieht zu mir herüber, ein wenig skeptisch, ein wenig verunsichert, als ob sie nicht genau weiss, was sie nun sagen soll.
»Ich bin sicher, es wird sich bald alles klären, liebe Emma. Hab Geduld«, weicht sie meinen Fragen aus.
Ich nicke, sage jedoch nichts weiter. Es hat keinen Zweck, hier nach Antworten zu suchen, wenn nicht einmal meine Eltern mir die ganze Wahrheit anvertrauen wollen. Ausserdem gehört es sich nicht, bei jemand beinahe fremden sich auszujammern und um Antworten zu betteln.
»Nun, ich hoffe, ich kann dich dazu bringen, deine Sorgen für einen Abend zu vergessen. Immerhin ist dies doch der Grund, wieso du hergekommen bist. Nicht wahr?«, sagt sie, breit lächelnd zu mir und ich kann ihr ein Lächeln meinerseits einfach nicht abschlagen. Ich nehme erneut ihren Arm und bejahe nickend.
Wir kommen angeregt schwatzend in der Bar an und treten mit weiteren jungen Mädchen gemeinsam ein, die ebenso wie wir einen ausgelassenen Abend miteinander verbringen wollen. Und einige dieser jungen Frauen sicherlich mit der Absicht, einigen ansehnlichen, jungen Herren über den Weg zu laufen.
Es herrscht bereits freudiges Treiben im Inneren des Pubs, obwohl noch nicht einmal elf Uhr abends ist. Viele Menschen allen Alters sitzen gemeinsam an der Theke und trinken, unterhalten sich und lachen.
Doch die meisten befinden sich auf der Tanzfläche und tanzen wild zu dem mitreissenden Swing, der von einer Liveband in der Ecke gespielt wird. Die Musik nimmz allesamt ein, lullt sie in ihrer Mitte ein und es wirkt beinahe unwirklich.
Louisa lacht, als sie die ausgelassene Szene vor unseren Gesuchtern sieht und zieht mich schnell an eine freie Stelle an der Theke, damit wir uns etwas zu trinken holen können.
Ich kann über die laute Musik hineweg nicht verstehen, was sie dem Mann hinter dem Tresen zuschreit, doch als sie sich umdreht, hat sie zwei Gläsern in der Hand und für mich sieht es schwer nach Scotch Whiskey aus. Sie reicht mir ein Glas und noch während ich meines in der Hand hin und her drehe und mir die dunkle Flüssigkeit genau ansehe, hat sie ihres bereits heruntergestürzt und stellt es zurück auf die Thresen.
Dann ist sie auch schon auf der Tanzfläche. Ich schaue ihr überrascht hinterher; einem so kleinen, zierlichen Mädchen gibt man ein solches Verhalten überhaupt nicht. Doch ich bin schon sehr beeindruckt und tue es ihr ohne lange zu überlegen gleich. Wir treffen uns auf der Tanzfläche, und da packt sie mich bei den Händen und wir tanzen gemeinsam.
Die Musik plärrt so laut durch den Raum, dass es sich nicht lohnen würde, dass Sprechen überhaupt in Betracht zu ziehen, doch keiner von uns hat das Bedürfnis dazu. Stattdessen lassen wir uns vom wilden Rhythmus des Liedes mitreissen und tatsächlich vergesse ich für ein paar wunderbare Momente meine Sorgen.
Doch dann werde ich beinahe urplötzlich in sie zurückkatapultiert, als ich ein mir nur wenig bekanntes Gesicht in der Menge erblicke. Es ist der junge Mckenzie, den ich heute morgen im Londoner Hauptgebäude kennengelernt habe. Ich bin verwirrt, als ich ihn erkenne.
Was tut der denn hier? In diesem Jahrhundert, an diesem Ort?
Trotz aller Gegensprüche, bin ich mir ziemlich sicher, dass er es ist und nicht einfach ein junger Mann, der ihm ausgesprochen ähnlich sieht.
Wie kann es sein, dass er zufällig in die gleiche Vergangenheit wie ich gesprungen ist? Am gleichen Ort? Kann das überhaupt Zufall sein, oder ist er meinetwegen hier?
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Shadow of Past - Band I
FantasyEmma Sinclair fühlt sich durch die unerbittliche Strenge ihrer Mutter, der ständigen Forderung ihres Vaters und der Jahrhunderte alten Bürde, die auf ihr lastet, mehr und mehr einsam und verwirrt. Sie weiss nicht, wer sie ist und wohin sie gehört. S...