Schatten der Vergangenheit

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Brookwood Cemetery, London 1809


Wir gehen langsam über die mit Kieselsteinen gesprenkelten Wege des riesigen Friedhofs. Ich sehe die Mammutbäume den Weg säumen, genau wie ich sie über unseren Häuptern spüre. Ihre schweren Äste hängen kaum hinab, obwohl sie ein grosses Gewicht für den starken Baum sein müssen. Schon immer war ich fasziniert von solch Naturwundern, wie diesem.

Eine Weile lasse ich meinen Blick schweifen, sehe hinauf gen Himmel empor. Das seichte Tageslicht schwindet bereits, inzwischen deutlich früher, als der Sommer einem noch vor wenigen Tagen versprach.

Wieso wir uns auf einem Friedhof treffen, der wohl bekanntesten Kulisse einer wohl kaum erfreulichen Tat, kann ich noch immer nicht ganz nachvollziehen. Obwohl mir Fionn's Argumente, dass dies am sichersten und unauffälligsten wäre, einleuchtend erscheinen.

»Andererseits muss ich anmerken, dass ein Friedhof nicht sonderlich unauffällig ist, oder was meinst du?«, sage ich zu ihm, der in seinem schicken Jacket, dem Zylinderhut und den hohen beigen Hosen schon sehr stattlich aussieht. Wenn gleich ein Objekt meines jüngsten Spottes, um ehrlich zu sein.

Fionn sieht zu mir herüber. Er sieht mich mit seinen blauen, tiefen, grüblerischen Augen an, und ich kann ganz deutlich erkennen, dass ihm mein Misstrauen missfällt. »Und ich muss meinerseits anmerken, dass es mich nervt, dass du nicht endlich damit aufhören kannst meine Entscheidungen zu hinterfragen«, giftet er.

Wenn er so mit mir spricht, erkenne ich den wohlerzogenen schottischen Gentleman kaum wieder, dennoch reizt mich sein Ärger irgendwie. Ich grinse verstohlen in mich hinein und drehe dabei den Kopf zur Seite, damit er es nicht sehen kann. »Nun, Sir, ich kann Ihnen mit Sicherheit sagen, dass Autorität mir schon immer diverse Mühe bereitete«, erwidere ich gespielt süffisant.

»Oh, das weiss ich nur zu gut, Miss Sinclair«, antwortet er. Ich kann an seiner Tonlage erkennen, dass er nicht für meine nur einseitig lustigen Witze aufgelegt ist. Eher im Gegenteil, denn seine Aufmerksam gleitet von mir weg, hinüber zur Sitzbank am Rande des Weges. Wegen des schnell schwindenden Lichts ist sie kaum noch zu erkennen, doch das weisse Material, aus dem sie geschaffen wurde, sticht sichtbar heraus.

»Ist sie schon da?«, frage ich, inzwischen ebenso abgelenkt von dem uns bevorstehenden Treffen. Ich bin auch ein wenig aufgeregt, wenn ich ehrlich sein soll.

»Ich glaube nicht«, erwidert er. »Lass uns rüber gehen und hinsetzen. Es ist immer am besten in solchen Situationen einen möglichst normalen Eindruck zu erwecken, falls unerwartete Passanten vorbeikommen.«

Meine Antwort ist ein steifes Nicken, bevor er mir seinen Arm anbietet und wir gemeinsam zur kleinen Bank herüber schlendern. Die Wärme, welche von seinem Körper auskommt, beruhigt mich ungemein.

In diesem Moment stelle ich mir vor, wie es wohl wäre diese Wärme speichern zu können, sie aufzusaugen und dann irgendwo in meinem Inneren zu verstauen. Ich würde sie hervor nehmen und an mein Herz pressen, wann immer die Welt mir ihre Grausamkeit entgegenschlägt. Und ich würde an ihn denken, daran, dass er mir seine Wärme sicherlich mit Freuden schenken würde.

Wenn doch alles nur so leicht wäre, wie eine simple Vorstellung der Zufriedenheit und Wärme. Nur leider ist dem nicht so. Und genau deshalb stehe ich jetzt 1809 mit einem schottischen Soldaten auf einem verlassenen, dunklen, gruseligen Friedhof und warte auf meine Nicht-Verwandte, die unter anderem dabei geholfen hat, mich von blutrünstigen Engländern zu beschützen.

Wie das Schicksal doch seinen irrwitzigen Lauf nimmt, und mich gleich mit sich. Dass einzige, was ich derweilen tun kann, um nicht komplett verrückt zu werden, ist, mich und andere mit einem dunklen Humor zu erfreuen. Wobei ich doch ehrlich zugeben muss, dass niemand so erfreut darüber zu sein scheint, wie ich selbst.

»Könntest du es wohl unterlassen, so dermaßen hysterisch herumzuzappeln?«, bittet Fionn mich. In seiner Stimme fliesst nun eine offenkundige Gereiztheit mit. Ich weiss, dass diese zum einen von der langen Fahrt nach England herkommt und zum anderen, weil er nervös ist, dass uns der Feind hier aufspüren könnte.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass er sich noch immer Vorwürfe wegen des letzten Males macht, als ich plötzlich nicht mehr in Reichweite gewesen bin.

Ich denke erneut an die prekäre Lage zurück, in der ich mich befunden hatte. In vielerlei Hinsicht hatte ich viel Glück gehabt und sehr wenig Verstand. Wenn die beiden Entführer sich dazu entschlossen hätten, doch auf mich zu schiessen, wäre ich längst tot. Und nicht ich selbst habe zu meiner eigenen körperlichen Unversehrtheit beigetragen, sondern die beiden, die mich überhaupt erst in ihrer Gewalt hatten.

Allein durch den Zufall, der mir widerfahren ist, indem ich mich urplötzlich einfach so in die Vergangenheit hatte bewegen können, rettete schliesslich mein Leben. Dennoch war es reines Glück gewesen, immerhin hatte ich komplett intuitiv gehandelt und nicht einmal gemerkt, was ich da geleistet hatte.

Ich frage mich, was wohl passiert wäre wenn ich es nicht geschafft hätte, ihnen zu entkommen. Wohin hätten sie mich verschleppt? Was wäre mit mir passiert? Hätten mich englische Politiker einfach hinrichten lassen, ohne sich mit mir abzugeben? Wäre ich gestorben, ohne ein letztes Wort zu sagen? Wäre es von Bedeutung gewesen?

Sich solche monumentalen und recht philosophischen Fragen erst zu stellen, wenn es gegen Ende zu geht oder wenn man sich in einer äusserst lebensbedrohlichen Lage befunden hat, kommt mir dumm vor. Und trotzdem habe ich mir nie vorher darüber Gedanken gemacht.

Was hätte es für einen Sinn gehabt, in den Händen von Menschen zu sterben, die mich exekutierten weil ich die Nachfahrin einer längst verstorbenen Regentin bin? Wohl gewiss keinen.

Dennoch ist die Gefahr jener Menschen realer als alles andere in meinem Leben. Eine Erkenntnis die reichlich spät kommt, wie ich mir einzugestehen muss. Und wenn ich so darüber nachdenke, wie ich es jede freie Sekunde seit dem tue, will ich nie wieder in eine Situation kommen, in der ich nicht selber für mein Überleben sorgen kann.

Diese dunklen Gedanken werden durch eine zierliche, langsam näher kommende Gestalt beiseite geschoben. In eine beinahe unscheinbare Ecke meines Gedächtnis, die nur dann zum Vorschein kommt, wenn Trübnis mich überkommt.

Ich lasse mich von Fionn hochziehen, nachdem wir einige Minuten still nebeneinander gesessen haben. Ich wundere mich darüber, als ich Freya auf uns zukommen sehe, dass sie alleine gekommen ist.

Ist sie nicht längst eine Flüchtige? Eine Gesuchte der englischen Staatsmacht? Und dann kommt mir blitzartig ein Gedanke, der mir schon viel früher hätte kommen sollen: Warum, um Himmelswillen, ist dieses Mädchen nicht geflohen? Nach Schottland, oder über den Ärmelkanal weit weg.

Man hatte sie verfolgt, gejagt und schliesslich gefunden. Dann wurde sie verbrannt wie eine Hexe. Es hätte hundert Gründe gegeben das Weite zu suchen. Und dasselbe gilt für Levi Fraser.

»Guten Abend«, sagt sie, sobald Freya in unserer Hörweite ist.

Ich nicke nur, denn mir wird abermals bewusst, wie wenig ich eigentlich weiss. Wie viele Geheimnisse sich noch immer vor mir auftürmen und bedrohlich über meinem Haupt aufgestapelt sind, nur darauf wartend herunterzustürzen und mich unter sich zu begraben.

Shadow of Past - Band IWo Geschichten leben. Entdecke jetzt