»Die will ich mich doch verarschen, oder?«, rufe ich empört, nach einer anhaltenden, angespannten Minute des kompletten Schweigens. Man hätte vermutlich Staub fallen hören, so ruhig ist es gewesen.
Aber jetzt platzt meine Ungläubigkeit und das Gefühl, an der Nase herum geführt zu werden, aus mir heraus wie ein Wirbelsturm. Ich kann nicht verstehen, wie diese Person so verschwiegen sein kann. Wieso sagt sie nicht die Wahrheit? Direkt und grade heraus.
»Vielleicht... gibt es eine ganz simple Erklärung dafür«, meint Fionn, doch ich kann die Verunsicherung in seiner Stimme hören und das er das nur sagt, um mich zu beruhigen.
Ich sehe ihn scharf an, als wollte ich sagen Ach ja?! und senke meinen Blick dann wieder auf das Notizbuch. Ich lasse meinen Blick über die wenigen Namen fahren, versuche zu begreifen, was das sein soll. Dann blättere ich weiter.
Ich kann meinen Augen nicht trauen, als wir in den darauffolgenden Seiten Beschreibungen, ja beinahe Tagebucheinträge, von verschiedensten Frauen finden, denen offenbar dasselbe passiert ist wie mir. Und auch auf ihrer Haut sind dunkle, merkwürdige, unerklärliche Male aufgetaucht.
Ich schnaufe tief ein und aus. Die Wut macht sich in meinem gesamten Körper breit und lässt sich wie ein zusammengedrückter, schmerzhafter Klumpen in meiner Magengrube nieder. Denn mir kommt eine Erkenntnis, die wie Schuppen von meinen Augen fällt: Wenn diese Frauen alle über diese sich merkwürdig äussernde Fähigkeit Bescheid wussten und Freya ganz offensichtlich eine von ihnen gewesen ist, dann hat sie mich angelogen.
Sie sagte, sie wäre zwar einigen begegnet, jedoch habe sie nie genug Zeit mit ihnen verbracht, um genaueres herausfinden zu können. Genaueres über diese Male, die einem offenbar kommen, sobald man von seiner Fähigkeit Gebrauch macht.
Ich lege das Notizbuch auf den Tisch, lege ergeben das Gesicht die Hände, da ich davon überzeugt bin, alles erfahren zu haben, was ich zur Zeit wissen muss. Im Hinblick dessen fühle ich mich leer... und irgendwie wie ausgetrocknet. Am Ende mit meiner Geduld... und mit meiner Kraft.
Fionn hingegen scheint nicht überzeugt zu sein, nimmt das Buch in seine Hände, in denen es noch kleiner aussieht, und blättert weiter. Ich sehe ihm dabei zu und als die handgeschriebenen, individuellen Einträge in etwas definitiv anderes übergehen, hebe ich erneut den Kopf.
»Was ist das?«, frage ich müde.
Er zuckt nur mit den Schultern und liest die Zeilen flüchtig durch. Dann lächelt er ein wenig, doch es sieht irgendwie traurig aus. »Sie nannten sich Die Boten der Zeit. Offenbar haben sie als Boten der reicheren Oberschicht und dem Adel fungiert, da ihre Reisemöglichkeiten durch die Jahrhunderte unbegrenzt erschienen«, informiert er mich. Er blättert weiter, liest erneut. »Es hat sie in grosse Schwierigkeiten gebracht, da viele der Zirkel sie gefürchtet haben.«
»Wieso?«
Fionn sieht mich lange an. »Menschen haben schon immer gehasst, was sie nicht erklären können und ganz offensichtlich mächtiger ist, als die sogenannten Führer«, erwidert er verbittert. Diese Erklärung ist genauso gut wie alle anderen, also lasse ich es so stehen.
»Na immerhin haben sie gut verdient«, sagt Fionn grinsend und zeigt mir einige Seiten mit Verzeichnissen ihres Verdienstes. Manchmal steht am unteren Rand der jeweiligen Seite wo sie das Geld aufbewahrten. Ich vermute, dass sie nicht mit so viel Geld durch die Gegend laufen wollten, im Falle, dass man sie schnappte.
»Was glaubst du, wieso Freya uns nicht einfach die Wahrheit sagte?«, frage ich ihn dann schliesslich doch noch. Mein Zorn ist zwar noch immer spürbar, doch das meiste davon ist bereits verraucht.
»Freya lebte die meiste Zeit in Furcht, Emma. Sie muss vor den verschiedensten Dingen fliehen, wie wir gerade herausgefunden haben. Und offenbar hat sie während der Zeit ihres Lebens nie wirklich herausgefunden, wie sie das ganze Puzzle zusammen bringen kann... Vielleicht hat sie sich dieser Gruppe auch soweit verbunden gefühlt, dass sie nichts verraten konnte.«
Ich nicke, eine überaus passable Erklärung. »Denkst du, diese Mutation, oder was auch immer, ist der Grund, wieso die Sinclair Familie sie verstossen hat?«
Fionn zuckt unwissend die Schultern. »Durchaus denkbar. Ganz offensichtlich wurden diese Frauen gesucht und verhaftet um hingerichtet oder verbrannt zu werden, wenn sie mit dieser Fähigkeit beschenkt waren. Wenn die Sinclair's, Zugehörigen der englischen Elite im Zirkel, dass herausgefunden haben, dann kann ich mir gut vorstellen, dass das der Grund gewesen sein könnte.«
Ich weiss noch immer nicht genau, was das alles mit mir zu tun haben soll, doch immerhin ist durch dieses kleine Büchlein und die Recherchen, welche wir heute betrieben haben, einiges klarer.
»Wir sollten es mitnehmen«, sage ich zu Fionn und stehe auf. Ich nehme ihm das rote Buch aus der Hand und lege es vorsichtig zurück an seinen Platz in der Schatulle. Diese verschliesse ich anschliessend ebenso behutsam und hebe sie unter meinen Arm.
»Bist du irre? Das ist Diebstahl«, wirft er ein.
»Und Verbrennung von kleinen Mädchen ist Mord, trotzdem wurde es oft genug getan. Niemand wird merken, dass wir es haben, immerhin ist es dahinten in Vergessenheit geraten«, versichere ich ihm. Nicht, dass ich auf seine Erlaubnis warte, immerhin besitze ich selber noch ein Gehirn.
Ich beginne, all die Bücher die wir herausgenommen haben, wieder in seine Regale zu verstauen, angefangen bei demjenigen, indem die Schatulle versteckt war. Ich weiss nicht, wie viele Bücher zu Beginn dort gestanden haben, doch ich packe zur Sicherheit so viel dorthin, dass man wirklich nichts mehr von der Rückwand des Regals erkennen kann.
Dann gehe ich zur geheimen Tür, drücke leicht dagegen und muss einige Schritte zurückspringen, als sie beinahe augenblicklich auf mich zukommt.
Fionn und ich verlassen mit der Schatulle unter meinem Arm die Bibliothek, ohne das jemand auch nur ein Sterbenswörtchen zu uns sagt.
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Shadow of Past - Band I
FantasyEmma Sinclair fühlt sich durch die unerbittliche Strenge ihrer Mutter, der ständigen Forderung ihres Vaters und der Jahrhunderte alten Bürde, die auf ihr lastet, mehr und mehr einsam und verwirrt. Sie weiss nicht, wer sie ist und wohin sie gehört. S...