London, England 1808
Schnell steht Freya auf und greift grob nach meinem Oberarm und reisst mich in Richtung des Fensters, schaut hinaus, zieht dabei die Vorhänge beiseite.
Freya reisst die Stoffe beinahe von der Stange, dann macht sie in einer Hektik die Fenster auf und drängelt mich beiseite.
Inzwischen haben die beiden Männer die Tür gesichert, indem sie Möbel davor geschoben haben und kommen zu uns. Freya und Levi schieben uns zurück ans Fenster. Wir befinden uns im ersten Stock, sodass es ein leichtes ist, hinaus zu springen.
Aber das ist Irrsinn, ganz ehrlich. Wieso sollten wir das tun, nur weil ein paar Besoffene von aussen gegen die Tür hämmern? Was ist hier los?
Ich schaue Freya fragend an. »Sie sind deinetwegen hier«, beantwortet sie meine unausgesprochene Frage. »Sie wollen dich. Du bist ungeheuer wertvoll für uns.«
»Ich weiss nicht, wovon du sprichst«, erwidere ich.
Ich tue, was ihr offensichtlich im Sinn steht, als sie mich weiter Richtung Fenster schiebt und hebe das Kleid samt Bein an. Ich lege meinen Fuss über die Brüstung, wohlwissend dass ich sterben könnte, wenn ich einen falschen Schritt täte.
Fionn ist bereits darüber geklettert und hilft mir, mit dem gefühlt tausend Meter langen Kleid, heil über das Geländer zu kommen.
Aufgrund des Zeitmangels der hier herrscht, diskutiere ich nicht mit ihm darüber, dass ich das sicherlich auch ohne seine Hilfe hätte elegant managen können, sondern greife brav nach seiner Hand. Ich lasse mich von ihm nach draußen ziehen und wir sehen uns einen Moment tief in die Augen.
In meinem Inneren spüre ich die Wut, weil mir keiner die Wahrheit sagt, weil es offenbar um mich geht, und mich doch jeder belügt. Auch er, die ganze Zeit schon.
»Ich weiss, aber bald wirst du es verstehen«, sagt Freya und setzt an meiner letzten Aussage an. »Du wirst mit jemanden sprechen, der dir all die Dinge sagen wird, die du wissen musst.«
Als sie diese Worte ausspricht, sieht sie mich nicht an. Sie sieht zu Fionn, der überrascht aufsieht, seinen Ohren nicht zu trauen scheint, doch er nickt ihr zu. Gerade so als würde er einen Befehl annehmen.
Um Himmelswillen!, denke ich innerlich fluchend. Ich lasse mich ohne Vorwarnung und ohne mich von den beiden zu verabschieden fallen, lande auf den Füssen, gehe dabei in die Knie um mich nicht zu verletzen. Dann sehe ich mich geschwind um, nicht dass hier draussen auch noch Gemeingefährliche lauern, die mich aufschlitzen wollen, oder so was.
Ich überquere die Strasse, ohne auf Fionn zu warten. Doch er ist bereits hinter mir, denn ich höre seine eiligen Schritte im Matsch. Ich bin sicher, etwas von der braunen, dreckigen Erde spritzt an mein seidenes Kleid, was es runiiert.
Fionn legt eine Hand auf meine Schulter, sobald wir in der nächsten dunklen Gasse verschwinden. Ich schüttle ihn demonstrativ ab. »Lass mich!«, zische ich.
»Emma, es tut mir echt leid«, sagt er leise, folgt mir aber weiterhin penetrant Schritt für Schritt.
»Was denn?«, frage ich mit lauter Stimme. Ich bin aufgebracht und durcheinander, weil nun klar offenliegt, dass mich weiterhin jeder in meiner direkten Umgebung belogen hat. Und noch immer belügt. Wieso um himmelswillen, bin ich nicht bei meiner Familie gelieben?
»Dass du mich die ganze Zeit über belügst, hintergehst und manipulierst? Ich weiss nichts über dich, Mckenzie. Im Grunde weiss ich doch nicht einmal, wer ich bin... «, sage ich dann schon etwas leiser, komplett niedergeschlagen von den heutigen Ereignissen.
Ich biege um eine weitere Ecke, die in eine vollkommen dunkle Gasse führt. So dunkel, dass ich einen Moment nicht einmal meine eigene Hand vor Augen sehen kann. In der Stille höre ich einen dumpfen Schlag, dann ein Geräusch als ob ein nasser Sack zu Boden fällt. Gänsehaut überzieht augenblicklich meinen gesamten Körper, mehr Reflex als eine Reaktion auf das, was ich wahrnehme.
Ich drehe mich um, aber da ist kein Fionn.
Dabei war er gerade noch hinter mir. Ich gehe einige Schritte zurück, um nachzusehen ob mit ihm alles in Ordnung ist, oder ob er mich verarschen will. Das wäre ein wirklich unpassender Zeitpunkt und ich würde ihm dafür ziemlich sicher diverse Körperteile entfernen, nachdem ich ihm schreiend und kreischend meine Meinung gegeigt habe.
Aber in der dunklen, stinkenden Gasse kann ich ihn nirgends entdecken und merke, wie langsam Angst meine Kehle empor steigt. Zuerst ist es die Angst und dann Aufregung.
Ich mache mich bereit. Bereit für einen Kampf. Erneut drehe ich mich um. Vermutlich sind es mehrere Angreifer, die mich in die Enge treiben wollen, indem sie mir Angst einjagen.
Ich lasse mich aber nicht wie ein scheues, verwirrtes Tier in eine Ecke treiben und dann willenlos abschlachten. Falls das deren Plan dahinter ist...
Ich versuche die kleine Gasse in Augenschein zu neben, aber abgesehen davon, dass es wirklich verdammt dunkel ist, merke ich auch, dass es sich um eine Sackgasse handelt. Mist.
In Ordnung, nicht in Panik verfallen. Ich versuche mich selbst zu beruhigen und ziehe eine kleine, spitzige Waffe aus meinem Haar, welche ich immer dort aufbewahre, wenn ich in die Vergangenheit reise. Die Haarspangen sind unauffällig, aber sehr effektiv.
Und damit ringe ich auch gleich den ersten Angreifer nieder, der tatsächlich wie aus dem Nichts zu kommen scheint. Er landet gleich neben mir auf dem Boden und bleibt regungslos liegen. Ich schaue mich weiterhin um. Es ist still.
Dann kommen gleich mehrere auf einmal und ich wehre mich so gut ich kann, ich trete, schlage, zeige all die Jahre an Verteidigungskünsten, die ich durchlebt habe und ich auch wirklich gut beherrsche
Aber gegen zehn erwachsene Männer zu kämpfen, ist keine leichte Aufgabe. Schlussendlich überwältigen diese mich, indem sie mir eine betäubende Droge mit einem Tuch auf Mund und Nase drücken. Dann sacke ich in den Armen dieser fremden Männer zusammen.
Das letzte, dass ich noch mitbekomme ist, wie sie mir einen Sack über den Kopf stülpen, hochheben und mitnehmen.
Dann wird alles schwarz vor meinem inneren Auge.
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Shadow of Past - Band I
FantasyEmma Sinclair fühlt sich durch die unerbittliche Strenge ihrer Mutter, der ständigen Forderung ihres Vaters und der Jahrhunderte alten Bürde, die auf ihr lastet, mehr und mehr einsam und verwirrt. Sie weiss nicht, wer sie ist und wohin sie gehört. S...