London, England 1921
Der Aufprall in den 1920er Jahren ist hart, ein wenig unbequem, da ich aus der Luft heraus auf den Boden zu knallen scheine. Ich werde meistens mit einer wahnsinnigen Kraft durch Zeit und Raum geschleudert. Nicht selten verletze ich mich dabei.
Dieses Mal reibe ich mir den kribbelnden Ellbogen, stehe dann vom Boden auf und sehe mich um.
Damals gab es unser Haus bereits, und war, genau wie jetzt, im Besitz der Sinclair-Familie. Ich lasse mich selten hier blicken, denn ich habe keine Lust meinen bereits verstorbenen Verwandten zu erklären, wieso ich mich davon geschlichen habe.
Jedoch gibt es zu dieser Zeit eine Person in dieser Familie, der ich sehr zugetan bin. Ich glaube, sie müsste meine Urgrosstante sein, die in diesen Jahren eine junge Frau ist. Ich glaube, 1921 ist sie um die siebzehn Jahre alt. Zufällig, oder auch nicht, wurde ich nach ihr benannt. Ihr Name ist Louisa.
Leise schleiche ich mich aus dem Studierzimmer, das damals ebenfalls als jenes in Gebrauch gewesen ist. Ich schaue mich im ruhigen, menschenleeren Flur um, und als ich niemanden entdecken kann, husche ich hinaus und renne mit so leisen Schritten wie ich nur kann, die Treppe hinauf ins erste Stockwerk. Da ich schon öfters in dieser Zeit war, weiss ich wo sich ihr Zimmer befindet. Inzwischen gehört es aber Ava.
Leise klopfe ich an, dann trete ich ein ohne auf eine Antwort zu warten. Meine Urgrosstante sitzt an ihrem kleinen Schreibtisch und scheint einen sehr langen Brief zu verfassen. Mein Eintreten hat sie gar nicht bemerkt, noch dass nun jemand in ihrem Zimmer steht.
»Na, schreibst du da an einem Liebesbrief?«, frage ich mit amüsiertem Unterton.
Sie erschrickt und schaut sichtlich überrascht mich zu sehen zu mir auf. Ihr erschrockener Ausdruck ändert sich, sobald sie mich erkennt, denn dann strahlt sie mich mit grosser Freude an.
»Oh, Emma. Wie schön dich wieder zu sehen«, sagt sie und steht auf, um mich mit einer innigen Umarmung zu begrüssen. »Das letzte Mal hat mir gut gefallen.«
Ich muss beinahe ein wenig lachen. »In der Zukunft werde ich noch öfter erscheinen.«
Sie lacht vergnügt. »Sehr gut. Dann ist mein Leben wohl doch nicht so langweilig.«
Ich stimme kopfnickend zu.
»Nun, da du schon hier bist, sollten wir uns unbedingt ein wenig vergnügen, meinst du nicht auch?«, fragt sie, mit den Augenbrauen wackelnd.
Ohne auf meine Antwort zu warten, geht sie zu ihrem Kleiderschrank, der gefüllt mit wunderbaren glamourösen Kleidern aus den 20ern ist. Da ich in der Zukunft noch ein paar Mal her kommen werde, weiss ich, was sich darin verbirgt. Für mich liegen diese Ereignisse bereits in der Vergangenheit, nur in ihrer Gegenwart müssen sie noch erlebt werden.
Ich kann mich gut daran erinnern, dass sie genau diese Worte immer wieder sagen wird. Lousia ist nämlich eine richtige Partygängerin.
Währenddessen hatte sie ein wunderschönes Kleid herausgenommen, dass über und über mit Glitzersteinen bestückt ist. Es ist cremefarben, hauteng und bedeckt bis zum Anfang der Oberschenkel. Von da an weicht dem Blickdichten Stoff ein durchsichtiger Schleier, aus ebenso cremefarbenen Stoff, der ab und an von einem Muster aus Glitzer unterbrochen wird. Der Schleier reicht über die Füsse bis zum Boden.
»Findest du das nicht auch wunderschön?«, fragt sie mich, drückt mir den Kleiderbügel in die Hand. »Ich muss dir sagen, liebe Nachfahrin, die Zeit hat sich verändert. Frauen brechen aus und dürfen so viel Haut zeigen, wie nur geht um noch immer als anständig zu gelten. Und wenn du mich fragst, muss das einfach bis an die Grenzen ausgereizt werden.«
Ich muss lachen. Schon während unserem ersten Treffen merkte ich, dass sie eine wahrhaftige Feministin, Abenteuerin und sehr weltoffen ist. Hauptsache ihr Leben hält nicht in der Langeweile an.
»Auf jeden Fall.«
Dann sucht sie ein zweites heraus, welches ähnlich geschnitten ist, jedoch bis zu den Knien reicht. Es ist schwarz mit goldenen Fäden durchzogen, dazu ebenso Glitzer, wie man es sich in den 20ern eben wünscht.
»Das schwarze steht mir vermutlich besser, immerhin bist du blond«, meint sie und verschwindet hinter der verstellbaren Wand, die als Umkleideörtchen genutzt wurde. Ihre Abendsachen fliegen nur so durch die Luft, bis sie sekundenspäter mit dem Kleid am Körper dahinter hervortritt und bis über beide Ohren strahlt.
»Ist das nicht schick? Vater hat es mir mitgebracht, aus Frankreich.«
Ich nicke und bewundere ihre Anmut. Im Laufe meines Lebens wurde ich in gefühlt hundert verschiedenen Jahrhunderten geschult, ich weiss alles über die wichtigsten Ereignisse in England, ich weiss alles über die verschiedenen Verhaltensregeln aller Jahrzehnten in denen zu reisen es mir möglich ist, ich weiss alles über Mode, gesellschaftliche Konventionen wie z.B. Etickette, Tanz, Kunst und Kultur, ebenso alles über Politik in allen Jahrhunderten, ich weiss alles über Krankheiten, Unfälle oder Verbrechen und Hungersnöte. Ich wurde auch in verschiedenen Kampfsportarten ausgebildet, wie Fechten, Selbstverteidigung und wie man mit einer Waffe schiesst.
Dennoch habe ich so oft das Gefühl, dass ich niemals so elegant und anmutig sein kann, wie manche Frauen meiner Familie aus der Vergangenheit.
»Los, meine junge Freundin. Zieh dich um, dann kann's losgehen«, fordert Louisa mich auf, während sie bereits an ihrem Schminktischchen sitzt und ihr Gesicht bearbeitet.
Ich tue, was sie mir sagt und ziehe schnell meine Sachen aus und das neue Kleid an. Es passt wie angegossen. Es schmiegt sich an meinen Körper, wie eine zweite Haut und sieht dabei wirklich toll aus, soweit ich es in dem kleinen, schmalen Spiegel beurteilen kann.
»Oh, wie schön!«, ruft Louisa. »Ich wusste, es würde dir perfekt passen. Mir ist es ein wenig zu eng, aber du hast ja eine wunderbar zierliche Gestalt.«
Ich sehe sie mit erhobener Augenbraue an; ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ihr irgendetwas zu eng ist. Aber ich erwidere nichts darauf, denn da hat sie mich bereits geschwind am Handgelenk gepackt und zieht mich an sich. Sie deutet auf den zweiten Hocker neben dem ihren und wie mir geheissen, setze ich mich hin. Dann beginnt sie schon mein Gesicht mit Schminke zu bearbeiten, wobei ich nicht einmal sagen kann, was das alles ist.
»Du wirkst ein wenig älter«, fügt sie an, als sie beinahe fertig ist. Es fehlt offenbar nur noch ein wenig Bronze Pouder. Ich halte still und lasse sie machen. »Und auch besorgter.«
Ich zucke mit den Schulter. »Ich glaube, ich war vor einem Jahr das erste Mal bei dir.«
»Dann bist du jetzt einundzwanzig?«, fragt sie nach.
»Ja, gerade geworden«, stimme ich nickend zu.
Louisa macht sich an meinen Haaren zu schaffen, steckt sie zu einem lockeren Seitendutt zusammen und reicht mir dann eines dieser süssen Stirnbänder, die man in den 20ern über der gemachten Frisur getragen hat. Viele dieser Bänder sind mit farbigen Federn bestückt, doch dieses hier ziert eine Art Zweig, welcher mit ebenso cremefarbenen Glitzer überzogen ist. Das Band an sich trägt ebenso ein schönes, verschnörkeltes Muster auf sich.
»Sehr schön. Ich hole uns schnell passende Schuhe«, sagt sie und steht schon wieder auf den Füssen.
Sie kehrt zu ihrem Kleiderschrank zurück und holt zwei Paar Sandaletten heraus, die beide mindestens 10 cm Absatz haben müssen.
Und da ich hoft in die Vergangenheit reise und da eine gewisse Art von Schuhen quasi Pflicht ist, bin ich es mir gewohnt solchebzu tragen. Selbst nach einem langen Abend auf den Dingern, tuen meine Füsse kaum weh.
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Shadow of Past - Band I
FantasyEmma Sinclair fühlt sich durch die unerbittliche Strenge ihrer Mutter, der ständigen Forderung ihres Vaters und der Jahrhunderte alten Bürde, die auf ihr lastet, mehr und mehr einsam und verwirrt. Sie weiss nicht, wer sie ist und wohin sie gehört. S...