Leith, Scotland 1561
Wenn die Sonne untergeht, dann sehe ich meist aus dem Fenster. Jetzt, da ich vieles weiss und dennoch vieles noch so Ungewiss erscheint, beruhigen mich einfache Dinge umso mehr.
Aber heute Abend ist auch das fallende, rote Licht der untergehenden Sonne nichts, was mich ruhiger macht. Eher im Gegenteil: Sie erinnert mich daran, dass Tage, Jahrhunderte vergehen und nichts wird sich je an der Tatsache eines Sonnenunterganges ändern lassen.
Eigentlich sollte mich das wirklich weniger zittern lassen, aber dieser Gedanke erinnert mich daran, dass sich dieses Leben nicht so sehr von dem meinen unterscheidet. Selbst wenn sich das viele wohl einreden.
Die Mckenzie haben in ihrem Haus eine beeindruckende Garderobe bereits vergangener Jahrhunderte. Darin hätte ich Stunden herumwühlen und ihre Schätze bewundern können.
Glücklicherweise hatte ich die Gelegenheit selber eines dieser wunderbaren Kleider anziehen zu dürfen. Ich habe mich für ein apricot-farbenes Kleid entschieden, welches mit einer cremefarbenen Korsage versehen ist. Wie üblich in dieser Zeitspanne, wird das Oberkleid vorne an der Brust beinahe offen getragen. So ist die fein bestickte Korsage zu sehen, welche an sich schon ein kleines Wunder abgibt.
Die Stoffe des Kleides wallen um meinen zierlichen Körper, von der Hüfte an in einer gradlinigen A-Linie, die bis zum Boden reicht und so meine Füsse verdeckt. Auch im unteren Teil des Kleides spaltet sich dieses in eine Art Dreieck, sodass auch hier die darunterliegende Lage Stoff sehen kann. Diese hält sich in derselben Tonart wie die Korsage, sodass dieses anziehbare Meisterwerk sehr stimmig und auch relativ schlicht wirkt.
Der Saum aller Kanten der Stoffe, selbst der Ärmel, ist mit hellblauem Garn geziert und zeigt ein aufwendig gefertigtes, dennoch feines Muster.
Dadurch, dass mein Oberkörper in der Korsage noch enger zusammengedrückt wird, sehe ich im Spiegel schon sehr schlank aus. Wohingegen mein Busen nach oben gepushed und perfekt in Form gebracht wird, wie der weltbeste BH.
Ich hatte meinen heiden Spass bei der Auswahl des perfekten Outfits, jedoch verspüre ich nichts mehr von dieser Freude. Ich bin komplett durcheinander, zittere am ganzen Leib und wünschte beinahe, ich könnte die Zeit zurückdrehen um mich anders zu entscheiden.
Allerdings gehört dies leider nicht zu meinen Fähigkeiten, wo man doch annehmen müsste, in der Zeit zu springen ist schon Gabe genug.
Fionn tritt neben mich. Wenn gleich die Stimmung zwischen uns weiterhin gespannt und unterkühlt ist, hat er selbstverständlich darauf bestanden, mich zu begleiten.
Selbstverständlich habe ich lautstark protestiert, da unser letzter Besuch ziemlich beschissen verlaufen ist. Allerdings mit dem Wissen, dass all meine Mühe umsonst ist, da es klar gewesen war, dass mich niemand aus diesem mysteriösen Geheimbund alleine gehen lassen würde. Natürlich wegen sicherheitstechnischen Gründen.
Wohingegen ich mit ziemlicher Sicherheit und nach reichlicher Überlegung zu dem Schluss gekommen bin, dass dem nur so ist, weil sie Angst vor dem Zorn ihrer Königin haben.
Was auch immer. Ich stehe nun im Abendlicht des 26. Juli 1560 in einer privaten Villa in Leith, nähe Edinburgh. Im geschichtlichen Ablauf wurde überliefert, dass Königin Mary verwidtwet 1560 nach Schottland zurückkehrte und an diesem Ort ankam. Ihr Ehemann, Francis der Köngin von Frankreich und zufälligerweise auch mein Vater, verstarb einige Monate zuvor.
Doch wie mir Fionn vor unserem Sprung berichtete, ist dem gar nicht so. Tatsächlich lebt Francis noch immer!
Natürlich eine Schocknachricht für eine Geschichtsgelehrte wie mich. Wobei mich die Tatsache wenig berührte, dass mein Vater noch am Leben war.
Ich beschäftige mich noch immer mit dieser und einer Million anderer Fragen, als Fionn mich sanft am Arm nimmt. Er bedeutet mir mit einer unauffälligen Handbewegung, mich in den kleinen Salon gleich zu unserer Rechten zu begeben.
Der holzige Boden knarzt unter meinen Schritten, als ich eintrete. Der Raum ist nur mit einem winzigen Fenster versehen, dennoch ist alles aufgrund des Kaminfeuers und etlicher Kerzen von sanftem Licht durchflutet.
Auf dem Tischchen neben der bequem aussehenden Chaise-Long steht ein Tablett mit dampfendem Tee. Jedenfalls gehe ich davon aus, dass sich in der Kanne frisch aufgebrühter Tee befindet.
Ich bin so nervös, dass ich mich nicht auf ein solches Angebot einlassen kann. Selbst dann nicht, als ich merke, dass meine Hände eiskalt sind.
Stattdessen setze ich mich auf die gepolstere und mit Kissen belegte, kleine Fensterbank. Etwas abseits der Sitzmöglichenkeiten in diesem Salon. Irgendwie bringt mir das Sicherheit in einer metaphorischen Schlangengrube.
Wenngleich mein Magen sich Übelkeitserregend umdreht, als ich höre, wie sich eine zweite Tür öffnet und ein Diener eintritt. Er sieht mir nur ganz kurz in die Augen, bevor er den Blick erneut zu Boden gleiten lässt.
»Kann ich einige gebackenen Köstlichkeiten anbieten?«, fragt dieser mit leicht unsicherer Stimme.
Ich frage mich ob irgendwer weiss, wer ich wirklich bin. Doch das würde nicht allzu viel Sinn ergeben, immerhin würde ich fünf Jahrhunderte weit weg geschickt, um meine Identität oder meine blosse Existenz geheim zu halten.
»Nein, vielen Dank«, antwortet Fionn, ohne mich vorher zu fragen. Aber da ich momentan ohnehin nicht in der Verfassung bin, auch nur einen Laut von mir zu geben, geschweige denn etwas zu essen, ist mir das ganz recht.
Der Diener macht nickend eine tiefe Verbeugung, dann verlässt er den Salon schnell wieder.
»Ich kann von hier aus erkennen, dass du gleich einen Nervenzusammenbruch erleidest. Willst du einen Schluck Whisky?«, fragt Fionn und deutet mit erschreckend ernster Miene auf die gläserne Flasche in seiner Hand.
Eine Moment sehe ich ihn an, als ob er mich verarschen will. Doch dann schnalze ich abfällige mit der Zunge und sehe weg. »Normalerweise bin ich kein Vorbote der Vernunft, jedoch weiss ich mit ziemlicher Sicherheit, dass es die dümmste Idee wäre sich jetzt zu betrinken. Aber danke der Nachfrage.«
Fionn zuckt bloss mit den Schultern, und wenn mich meine Augen nicht vollkommen trügen, dann erkenne ich ein Schmunzeln in seinem Mundwinkel.
Nun gut, wenn ich mich jetzt noch über ihn aufrege, erleide ich tatsächlich einen Nervenzusammenbruch.
Und dann öffnet sich die Tür erneut, dieses Mal aber scheinbar viel bedachter. Dann tritt ein junger, aber sehr ernst wirkender Mann ein. Er trägt feine Kleider, von bester Herkunft und eine goldene, schlichte Krone auf dem Kopf. Seine blauen Augen büssen ihrer Schönheit ein wenig ein, da sie von dunklen Ringen untermauert sind. Sein blondes Haar ist etwas zu lang, doch es wallt in goldenen Locken bis über seine Ohren.
Francis II, König von Frankreich.
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Shadow of Past - Band I
FantasyEmma Sinclair fühlt sich durch die unerbittliche Strenge ihrer Mutter, der ständigen Forderung ihres Vaters und der Jahrhunderte alten Bürde, die auf ihr lastet, mehr und mehr einsam und verwirrt. Sie weiss nicht, wer sie ist und wohin sie gehört. S...