Brookwood Cemetery, London 1809
»Da sind... Male«, stottert Fionn, noch immer mit dem Finger an meiner Haut.
Inzwischen ist es vollkommen dunkel geworden und die Nachtluft lässt mich unweigerlich frösteln, sodass ich am liebsten mein zerstörtes Kleid energisch nach oben gezogen hätte. Doch offenbar scheint da tatsächlich etwas auf meiner Haut zu sein, etwas von dem ich bis jetzt noch nichts gewusst habe.
»Als ich zum ersten Mal ohne materiellen Anhaltspunkt durch die Zeit gesprungen bin, hat es auch so bei mir angefangen«, sagt Freya, nun wieder ganz Herr ihrer eigenen Gefühle. »Die Male kamen unerwartet und zuerst in kaum sichtbarer Farbe. Doch sie wurden immer mehr, dunkler, wie schwarze Tinte und gruben sich unter meine Haut. Inzwischen ist beinahe mein kompletter Rücken damit bedeckt. Ich weiss nicht, was sie bedeuten, aber sicherlich nichts Gutes«, erklärt sie mit unheilbringender Stimme.
Ich sehe sie an, während sie spricht. Ich kann kaum glauben, was sie da sagt. Ein magisches Tattoo macht sich über meine Haut her, weil ich diese anscheinende Gabe besitze?
Was zum Teufel...?
»Es gibt noch andere wie uns«, fährt sie schliesslich fort und zieht die Überreste ihres Kleides wieder an Ort und Stelle. Schnell tue ich es ihr gleich. »Nicht viele, aber es gibt sie. Ich bin einigen von ihnen begegnet, hatte aber nicht lange genug Zeit Antworten zu bekommen. Aber eines kann ich dir versichern, Emma, diese Male sind gefährlich. Gefährlich für denjenigen, der sie trägt. Wenn ich du wäre, würde ich herausfinden, was sie zu bedeuten haben. Das ist alles, was ich euch dazu sagen kann.«
Dann dreht sich Freya endgültig um und geht weg. Keiner von uns versucht erneut sie aufzuhalten. Und so verschwindet ihre Gestalt hinter den riesigen Mammutbäumen in der Dunkelheit und dreht sich nicht ein einziges Mal mehr um.
»Was hat das alles zu bedeuten?«, stelle ich der Nachtluft eine aussichtslose Frage. Am liebsten hätte ich geschrieen, lauthals geschrieen bis dies alles vergangen ist. Vergangen im Nebeldunst, in der Dunkelheit verteilt, zerstückelt, sodass keiner sich daraus noch etwas macht.
Aber die Wahrheit ist, dies ist nur eine weitere Offenbarung zu der unzählige Antworten gehören und es wieder einmal nicht in meiner Macht zu stehen schein, sie zu erhalten.
»Denkst du, meine Eltern wissen mehr darüber?«, frage ich Fionn nach einer sich endlos anfühlenden Minute des Schweigens.
»Ich denke, wir behalten deinen geschmückten Rücken erst einmal für uns. Die Tatsache, dass sich ganz offenbar etwas übernatürliches deiner annimmt, macht mich nervös. Und vermutlich hat Freya Recht, wenn sie meint, es könnte für die gefährlich sein, diese Male zu tragen.«
Er nimmt meinen Arm, grob, und bewegt meinen Körper zum Gehen. Ich weiss nicht, wohin er will, denn wir könnten gerade so gut hierbleiben wo uns keiner sieht, während wir zurückspringen. Doch ganz offenkundig scheint er ein bestimmtes Ziel zu haben.
Ich lasse mich von ihm ziehen. Fionn reisst beinahe an meinen Gliedmassen, doch ich spüre es nicht, nicht wirklich. Ich fühle mich wie benebelt, betäubt von der Wahrheit meines Lebens. Wie konnte es nur kommen, dass alles so durcheinander auf einem Haufen liegt, unmöglich zu ordnen, unmöglich entwirrt zu werden, sodass es einen Sinn ergibt?
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Shadow of Past - Band I
FantasíaEmma Sinclair fühlt sich durch die unerbittliche Strenge ihrer Mutter, der ständigen Forderung ihres Vaters und der Jahrhunderte alten Bürde, die auf ihr lastet, mehr und mehr einsam und verwirrt. Sie weiss nicht, wer sie ist und wohin sie gehört. S...