Wir schleichen uns langsam hinter dem Auto hervor und gehen zur Bank herüber, die man vom Inneren des Hauses nicht sehen kann, da ein grosser Baum davor steht. Seine herabhängenden Äste versperren die Sicht auf die kleine grüne Bank, die sich gut in die Natur einzufügen scheint.
Als ich jünger war, habe ich mich oft hier versteckt und manchmal, da konnte ich einen schnellen Blick auf das Treiben im Inneren des Hauses erhaschen. Meist jedoch war es das, wovor ich flüchten wollte und meinen Eltern dabei zuzusehen, wie sie sich anschreien, verstärkte meinen Fluchtwunsch bloss noch.
Fionn und ich lassen uns langsam auf der Bank nieder, sehen hinüber, durch das grosse Fenster, welches unser geräumiges Wohnzimmer zeigt. Ich kann meinen Vater erkennen... Zumindest den Mann, welchen ich immer für meinen Vater hielt.
Er liest in einer Zeitung, wie er es immer tut um diese Uhrzeit und im Fernseher muss gerade die Nachrichtenshow laufen. Ich frage mich, wie schnell sie ihr Leben so weiterlebten, wie es davor war, nach meiner Abwesenheit.
Immerhin hat sich einiges verändert: Meine Mutter hat praktisch keinen Lebensinhalt mehr, ohne eine Tochter, die sie herumkommandieren und kontrollieren kann.
Augenblicklich kommt mir der Gedanke, dass sie wohl nur so streng und emotionslos gewesen ist, weil ich niemals wirklich ihre Tochter gewesen bin. Andererseits hatte sie wohl niemals das Recht, mich so zu behandeln.
»Wie lange willst du warten?«, fragt Fionn mich, nachdem wir einen Moment schweigend ins Fenster gestarrt haben.
»Solange, bis ich mir sicher bin, dass Mutter da ist«, erwidere ich schnell und wende keinen Augenblick den Blick ab.
Ich kann im Augenwinkel sehen, wie Fionn sein Gewicht verlagert und ebenfalls aufmerksam und gezückt auf der Lauer zu liegen scheint. »Woher kommt diese Feindseligkeit zwischen euch?«
Ich räuspere mich. Eigentlich will ich jetzt nicht darüber reden. Eigentlich will ich darüber überhaupt nicht und noemals reden. Aber ich weiss, dass er sowieso nicht locker lassen wird.
Komischerweise scheint er über mich alles mögliche zu wissen, selbst Dinge, von denen ich keine Ahnung habe. »Ich weiss es eigentlich nicht so genau. Es war eben schon immer so. Aber jetzt, da ich weiss, dass ich keine Sinclair bin, sondern eigentlich... naja du weisst schon, macht das alles vielleicht doch Sinn.«
»Du denkst, sie benimmt sich dir gegenüber so, weil du eine andere Herkunft hast?«, fragt Fionn mich ungläubig.
Ich sehe für wenige Sekunden zu ihm herüber. »Scheint fast so.«
Fionn sagt nichts weiter. Aber ich kann mir denken, wie unwirklich das für ihn aussehen muss. Allerdings weiss ich nichts über seine Familiengeschichte, deshalb kann ich es nicht wirklich beurteilen. Vielleicht kann er sich besser mit solchen Situationen identifizieren, als ich mir jetzt vorstelle.
Wir beobachten meinen Vater geschlagene zehn Minuten beim Nichtstun. Und es ist echt die langweiligste Sorte von Nichtstun, denn mir schläft beinahe das Gesicht ein.
Aber dann, endlich kommt meine Mutter ins Wohnzimmer gestapft, mit ihrer gewohnt aggressiven Haltung, die einen entweder einschüchtert oder total nervt. Sie scheint extrem erbost zu sein, das kann ich an ihren aufgeblähten Nasenlöchern und in die Seiten gestützten Händen erkennen. So blickte sie mich meist an, wenn ich irgendetwas nicht ihrer Vorstellung entsprechend getan habe.
»Wow, die jagt mir irgendwie eine Heidenangst ein«, sagt Fionn ironisch, jedoch mit einer gesunden Portion Vernunft darin.
Ich muss ein wenig darüber schmunzeln. »Ja, wenn man nicht daran gewohnt ist«, sage ich dann schulterzuckend.
Fionn sieht zu mir herüber und ich merke, dass er mich lange einfach nur durchdringend anstarrt, bevor er endlich etwas sagt. »Glaubst du wirklich, es ist eine gute Idee mit deinen Eltern zu sprechen?«
Erneut zucke ich mit den Schultern. »Sie sind ja nicht wirklich meine Eltern, oder? Und ich will ihnen in die Augen sehen und verstehen, wieso sie mich belogen haben.«
»Wir alle hatten unsere Befehle.«
Ich schnaube wutentbrannt. »Das ist Schwachsinn! Meine Mutter hat mich behandelt, als wäre ich ihre persönliche Sklavin. Ich habe für sie die Familienehre wiederherstellen müssen, koste es, was es wolle. Und das waren keine Befehle, in Ordnung? Das war abgrundtiefe Verachtung«, sage ich zu ihm, voller Überzeugung.
Fionn erwidert nichts darauf, wohl bedacht mich nicht weiter zu verärgern. Offenbar scheint er gelernt zu haben, wann bei mir genug ist.
»Was wirst du denn zu ihnen sagen?«, fragt er dann stattdessen nach einer weiteren schweigenden Weile.
Ich hebe nachdenklich eine Augenbraue. »Vielleicht brate ich meinem Vater einfach eines mit der kostbaren Vase meiner verstorbenen Grossmutter über, die Mutter so liebt. Bis sie in tausend Stücke zerschellt.«
Fionn pfeift ironisch anerkennend. »Wunderbare Idee.«
Ich lache. »Ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll.«
»Das wiederum ist eine bescheuerte Idee«, sagt er. »Wenn du so impulsiv unterwegs bist, solltest du besser in geschütztem Rahmen bleiben.«
Ich sehe ihn skeptisch an. »Was für ein schwachsinniger Rat... Aber Eltern k.o. schlagen findest du ganz okay, oder wie?«
Darauf erwidert er erneut einfach nichts, zuckt nur abfällig mit den Schultern.
Plötzlich regt sich erneut etwas im Inneren des Hauses. Meine Schwester Ava, beziehungsweise nicht meine Schwester Ava, kommt ebenfalls ins Wohnzimmer und gesellet sich wortstark zum Streit hinzu. Sie scheint meiner Mutter die Stirn bieten zu wollen. Ihre dunklen Haare wallen ihr um die Schultern, als würden sie ihre Wut so unterstreichen.
Einen Moment schaue ich der Szene nur zu, dann stehe ich auf und laufe auf das Haus zu. Da wir uns auf der hinteren Seite befinden und ich das Anwesen kenne, gehe ich den kleinen versteckten Pfad entlang, welcher in den Garten führt. Sie können mich nicht sehen, entweder weil sie so in ihre Diskussion vertieft sind, oder weil die Bäume und Büsche mich noch immer verbergen.
Schliesslich stehe ich vor der Hintertür, die meist nicht verschlossen ist, mache sie auf und trete langsam ins Haus. Fionn folgt mir leise auf Schritt und Tritt.
Sobald ich einen Fuss ins Haus gesetzt habe, höre ich ihre lauten Stimmen durch die Gänge hallen, als wären diese nicht mit unzähligen Möbeln gefüllt. Ich folge meinem Schatten den Flur entlang, biege rechts ab ins offene Wohnzimmer und bin überrascht, als sie mich noch immer nicht bemerken.
Ava, welche gerade damit beschäftigt ist, sich im Zaum zu halten, als Mutter ihr einen gemeinen Vorwurf an den Kopf wirft, sieht mich schliesslich als Erste. Ihre Augen weiten sich überrascht, dann ändert sich ihr Gesichtsausdruck von überrascht, zu erfreut, zu besorgt. Offenbar scheint sie sich nicht entscheiden zu können, was sie bei meinem Anblick empfinden soll.
»Emma! Du bist Heim gekehrt«, sagt sie schliesslich, in vergleichsweise leisem Tonfall.
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Shadow of Past - Band I
FantasyEmma Sinclair fühlt sich durch die unerbittliche Strenge ihrer Mutter, der ständigen Forderung ihres Vaters und der Jahrhunderte alten Bürde, die auf ihr lastet, mehr und mehr einsam und verwirrt. Sie weiss nicht, wer sie ist und wohin sie gehört. S...