Zum Tode verurteilt

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London, England 1811

»Freya!«, jemand schreit so laut, dass man meinen könnte, es geht um Leben und Tod.

Aber tatsächlich geht es um Leben und Tod! Der junge Mann rennt um die Ecke und reisst sie am Handgelenk zu sich herum, in das kleine Haus hinein, welches am nächsten steht. Sie befinden sich am Stadtrand; bis hierher sind sie vor den Soldaten davongelaufen.

Sobald sie im Inneren des Hauses sind, drückt er ihr die Hand auf den Mund und hält sich einen Finger auf die Lippen um ihr zu Verstehen zu geben, dass sie still sein muss.

Keine Fragen darf sie stellen, er würde ihr alles später erklären. Er schaut auf das kleine Mädchen nieder, dass sie in ihren Armen hält. Ihre grossen blauen Augen schauen zu ihm auf, sie wirkt kaum verängstigt, scheint nicht zu begreifen, dass die beiden ihr Leben auf's Spiel gesetzt haben, um das ihre zu retten. Aber das ist auch gut so. Sie ist zu jung um eine solche Last auf sich tragen zu müssen.

Levi, der junge Mann, nimmt Freya das Kind aus den Armen und wiegt sie einen Moment hin und her. »Wir müssen sie in Sicherheit bringen. Noch heute.«

»Ich weiss«, erwidert Freya schnell. Sie klingt, als ob sie Angst habe, jeden Augenblick könnten Soldaten ins Haus stürmen.

Keine unbegründete Angst. Bis jetzt haben sie sie überall in der Stadt aufgespürt. »Wir haben es der Königin versprochen.«

»Eines Tages wirst du zurückkehren, kleine Prinzessin, hörst du«, sagt der junge Mann zu dem Kind in seinen Armen. »Deine Rückkehr wird passieren. Und du wirst alles verändern! Du wirst uns alle retten.«

London, England 2017

Ich stosse mir den Kopf an einem Bücherregal, als Fionn und ich in unsere Zeit zurückspringen. Zudem lande ich kurzerhand auf ihm drauf, als er mich mit voller Wucht von den Füssen reisst und wir gemeinsam auf den Boden fallen. Ich rapple mich auf und schüttle missbilligend den Kopf, doch er zuckt bloss mit den Achseln. Dann versuche ich das Gesehene langsam zu ordnen.

»Na schön«, sage ich dann zu ihm. »Wer war er?«, frage ich nach einer kurzen Ordnungsphase.

Fionn lacht schallend, setzt sich dann gemütlich auf einen Sesseln in seinem Wohnzimmer. Sofort kommt eine Angestellte herein und serviert frischaufgebrühten Tee, als ob sie gewusst hat, wann wir aus der Vergangenheit zurück sein würden. »Das ist wirklich alles, was dich an dieser Situation interessiert?«

»Nein, aber das Erste. Also, sag schon«, fordere ich ihn ungeduldig auf.

»Levi Fraser ist sein Name«, erwidert er einwilligend, nickt mit dem Kopf auf einen Platz ihm gegenüber, damit ich mich setze. Langsam habe ich das Gefühl, dass ich ihn ein wenig nervös mache.

»Wieso mussten sie fliehen? Und wieso war die königliche Garde involviert?«, frage ich weiter, nachdem ich mich gesetzt hatte und einen Schluck aus der Tasse mit dem frischen Tee getrunken hatte.

»Es wurde vermutet, dass sie einen Komplott gegen die britische Krone schmiedeten, dass sie etwas in der Hand hatten gegen die Monarchie«, erklärt Fionn mir. »Es ging über die Zeitreisende Gesellschaft hinaus, deshalb richteten die beiden auch einen solchen Aufruhr an, aber andererseits war jedem bekannt, dass die Briten viele Feinde haben.«

Ich bin verwirrt. »Aber was hätten sie denn gegen die Briten in der Hand haben können? Die Schotten wurden vor knapp hundert Jahren in der Thronfolge abgelöst«, erwidere ich. Das letzte schottische Königshaus waren die Stuarts. Sie hatten als letztes schottisches Haus Anspruch auf den Thron und dieses starb mit der Vermischung der britischen Thronfolge aus.

»Genau deshalb war das damals ein solcher Skandal: Anscheinend gab es handfeste Beweise, welche die beiden hatten. Und deshalb musste man sie unbedingt zum Schweigen bringen. Du weisst doch sicherlich wie die Engländer sind, wenn es um ihre Könige geht? Da gibt es kein Pardon. Kannst du dir vorstellen, was für ein Beweis das hätte sein können?«, fragt er mich, sieht mich dabei an, als würde er genau wissen, was für ein Beweis es gewesen ist.

Ich denke einen Moment nach, versuche mich in die Zeit zurückzuversetzen, von der wir reden und zucke dann mit den Achseln.

»Vermutlich einen legitimen Thronnachkommen, der tatsächlichen in Frage kommen würde«, antworte ich dann, und noch bevor ich den Gedanken zu Ende gedacht habe, dämmert es mir. Es fällt mir wie Schuppen von den Augen. »Das Kind!«, rufe ich. »Das Kind bei Freya und Levi!«

Fionn nickt anerkennend. »Ja, das Kind war dieser Beweis.«

»Ja, aber das kann nicht sein, oder? Ich meine, das würde ja bedeuten, man hätte einen Nachkommen der Thronfolger... schottischer Abstammung gefunden?«, frage ich nach, da ich nicht genau weiss, wessen Kind das sein soll.

Und was genau es geerbt haben könnte, dass es in solcher Gefahr geschwebt haben muss. Andererseits haben gewisse Kinder wegen weniger in unermesslicher Gefahr geschwebt damals.

»Freya hatte Gründe, zu wissen, dass dieses eine Kind der Nachkomme einer einst mächtigen schottischen Königin war, die mehrere Länder unter sich vereinte. Sie hatte sogar Recht auf das katholische England«, verriet Fionn mir.

Seine Worte klingen wage. Woher sollte Freya denn wissen, ob das alles tatsächlich wahr war und nicht einfach nur eine dumme Märchengeschichte?

Ich wollte sie selber danach fragen. Und wieso sollte sie ihr Leben aufgeben für ein Kind schottischer Abstammung? Für ein schottisches Königskind? Wir sind Engländer. Die Schotten sind praktisch unsere Erzfeinde. Seit Jahrhunderten.

»Du redest von Maria Stuart«, sage ich. »Denkst du, ich bin bescheuert?«

Fionn lächelt schelmisch. »Natürlich nicht. «

»Aber Mary Stewart hatte kein weiteres Kind mehr, das wäre doch raus gekommen. Ausserdem hat sie ihr Anrecht auf den Thron von England verloren, immerhin wurde sie dafür hingerichtet, wegen Hochverrats. Ich verstehe nicht so genau, wie das alles zusammenpassen soll. Wieso sollte meine Vorfahrin ihr Leben opfern, für eine Sache, die gar nicht ihre Sache ist?«, frage ich ihn, komplett verwirrt. Langsam habe ich das  Gefühl, je mehr ich erfahre, desto weniger verstehe ich.

»Ich werde dir helfen, all diese Fragen zu beantworten, allerdings bringt es dich nicht weiter wenn du alles durcheinander bringst. Und ausserdem kann ich dir jetzt gleich sagen, dass deine Geschichtsbücher nicht immer die Wahrheit sagen«, meint er selbstgerecht. »Wenn es um Zeitreisende geht, wurden viele Dinge zu unseren Gunsten verändert.«

»Du willst mich verarschen, oder?«

Er grinst mich breit an, schüttelt aber den Kopf.

Ich seufze, schnaufe tief durch und schliesse dann die Augen, um meine Gedanken zu sammeln. »Also gut, um alles zusammenzufassen: Freya Sinclair wurde also ermordet, weil sie diesem Baby das Leben retten wollte? Dies war der ausschlaggebende Grund?«

Fionn denkt einen kurzen Moment darüber nach. »Hm, ich denke, dass kann ich bejahen.«

Shadow of Past - Band IWo Geschichten leben. Entdecke jetzt