Verlorenes Kind

1.8K 133 4
                                    

Als ich zehn Jahre alt war, hatte ich eine einmalige Audienz vor der Königin von England und durfte mit drei anderen Mädchen die englische Nationalhymne singen. Danach durften wir uns mit Keksen und Tee eine Geschichte von einem berühmten Märchenerzähler anhören. Ich kann mich erinnern, dass es sich bei der Geschichte um die von Elizabeth der 1. handelte. Eine Königin, die die Geschichte von England vollkommen veränderte, vermutlich die einflussreichste Königin Englands, vielleicht sogar die einflussreichste Königin aller Könige und Königinnen Englands.

Als Kind wurde mir diese Geschichte natürlich eingetrichtert. Sie war wichtig, wertvoll, wie eine wahrhaftige, lebende Person. Als wäre Elizabeth noch da; wie ein Geist hing sie über unseren Köpfen und wachte über unsere Taten. Meine Mutter sagte mir immer, ich solle mich an ihr orientieren. An einer starken Frau, feministisch und eigensinnig, eine Frau, die alles menschenmögliche getan hat, um ihr Land zu stärken. Und all das ohne einen Ehemann.

Mit zehn Jahren war es schwierig ihre Worte zu verstehen, immerhin war ich ein Kind und hatte keine Ahnung, was es bedeutete, so viel Verantwortung zu tragen. Zudem war ich keine Elizabeth, keine grosse Kriegerin, keine mächtige Frau eines Königreichs... Und schon immer war es meiner Mutter wichtig, dass ich mich wie eine wahre Engländerin fühlte, sie sagte es immer und immer wieder. Engländer sind gut, alle anderen sind nicht gut. Und ich glaube, es war nicht einmal rassistisch gemeint. Ich glaube, sie wollte damit nur sagen, dass sie England mehr liebt als alles andere. Und mich zwang sie dazu.

Ich bin mir also nicht sicher, ob es vollkommen irrational ist, zu lachen, als ich höre, dass ich anscheinend Schottin sein soll. Der Punkt, dass ich tatsächlich die Adoptierte sein soll, von der wir seit mehreren Tagen sprechen, das Baby, welches Mary Stuart weggegeben hatte, ich sein soll, scheint mir noch absurder als alles, was ich je gehört habe.

Ich lache bis mir das Zwerchfell schmerzt, dabei liege ich flach auf dem Sessel. Aber irgendwann merke ich selbst, dass das vermutlich ziemlich bescheuert aussehen muss. Also stehe ich auf und gehe auf die Tür zu, mache sie auf und verlasse den Raum. Ich sehe im Augenwinkel, dass Fionn mir mit besorgt wirkender Miene folgt. Er hat bis jetzt noch kein Wort gesagt.

Ich laufe den langen, ziemlich düsteren Korridor entlang und folge dem Sonnenlicht, in der Hoffnung, dass es mich nach draussen bringt. Frische Luft wäre toll, damit mein Hirn wieder klar denken kann.

»Emma, vielleicht solltest du dich hinsetzen«, sagt Fionn schließlich zu mir, als ich die holzige Tür aufstosse, die nach draußen führt.

Tatsächlich befindet sich das Haus, indem wir uns seit meiner scheinheiligen Entführung aufhalten, mitten in der Natur. Um uns herum ist nicht mehr als ein hügeliges Landschaftsbild; grünes Gras, grauer Himmel und am Horizont kann ich ein winzig kleines Häuschen erkennen.

Als ich das sehe, bin ich so geschockt, dass überhaupt nichts mehr aus meinem Mund kommt. Vielleicht habe ich bis zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht ganz geglaubt, tatsächlich im verdammten Schottland zu sein, Herrgott nochmal!

»Heilige Scheisse«, murmle ich und muss mich unweigerlich ins weiche, noch etwas taufeuchte Gras setzen, weil meine Knie weich werden.

Fionn kommt zu mir und setzt sich neben mich. Er sagt keinen Ton.

»Ich bin keine Schottin!«, bricht es dann aus mir heraus, lauthals versteht sich. Was sich ein wenig falsch anfühlt, weil es hier so friedlich aussieht und von keiner Seite auch nur ein Geräusch zu kommen scheint. »Das ist nicht denkbar. Ich wurde als Engländerin erzogen, daran wird sich nie etwas ändern.«

»Doch, du bist Schottin. Echte Schottin. Schottischer als du kann man gar nicht sein, immerhin ist deine Mutter Maria Stewart, also bitte«, erwidert Fionn mit einem ironischen Unterton.

Ich werfe ihm einen schnaubenden Seitenblick zu, der mehr als tausend Worte sagt. »Halt deine Klappe, du bist wenig hilfreich, Überbringer schlechter Nachrichten«, sage ich. »Ausserdem, wieso sollte ich dir glauben?«

»Wieso sollte ich dich anlügen? Denk doch mal nach, Emma. Macht jetzt nicht alles einen Sinn: Alle merkwürdigen Dinge, die passiert sind und die du dir nicht erklären konntest, alle Dinge die mit Freya passiert sind. Einfach alles lässt sich jetzt erklären, oder etwa nicht?«

»Es hätte sich auch durch einen anderen Namen erklären lassen können«, erwidere ich schmollend.

Fionn seufzt.

»Was ist mit meinen... Eltern? Wieso haben sie mich belogen?«

»Weil sie es mussten. Das ist die Aufgabe, derer sie sich verschrieben haben«, erklärt Fionn. »Du wirst seit Jahren beschützt, von allen möglichen Menschen, die du nicht einmal kennst.«

Ich zucke mit den Schultern. »Wenigstens weiss ich jetzt, wieso meine Mutter mich hasst.«

Ich fühle mich wie ausgeleert. Als wäre alles wofür ich bisher gelebt und gekämpft habe, umsonst gewesen, denn alles ist eine Lüge gewesen. Als wäre alles komplette Verschwendung. Ich meine, was hat das alles für einen Sinn? Diese ganze Freya Sinclair Sache und wie schrecklich ihr Verrat gewesen war, bla bla bla... Ich meine, da fragt man sich doch, was wirklich wichtig ist, oder?

»Es tut mir echt leid, Emma«, sagt Fionn. »Ich weiss, dass das schwer sein muss.«

Ich drehe mich so zu ihm, dass wir uns beinahe gegenübersitzen. »Ich denke nicht, dass du nachvollziehen kannst, wie es sich anfühlt, herauszufinden, dass das gesamte Leben eine verdammte Lüge ist, oder?«

»Nein«, antwortet er.

»Ja, ich irgendwie auch nicht«, gebe ich dann zu. »Ich hab keine Ahnung, was ich dazu sagen soll. Eigentlich weiss ich überhaupt noch nicht, ob ich dir wirklich glauben soll.«

Ich kann sehen, dass er die Augen verdreht, aber ich ignorieren ihn.

Ich beginne das Gras zu meinen Füssen in meinen Fingern hin und her zu drehen und schaue dann in den grauen Himmel hinauf. Es sieht nach Regen aus. Ich würde es schätzen, wenn es in diesem Augenblick zu regnen begänne. Vielleicht könnt es all die Unwahrheiten abwaschen, jede Lüge, jedes Gefühl der Verzweiflung oder des Verrates...

Der Wind weht durch meine Haare und in der Ruhe dieser rauen Natur fühle ich mich
einsamer als je zuvor. In der Weite der Ferne kann ich nichts erkennen ausser noch mehr Weite, noch mehr Trostlosigkeit und obwohl ich die Wahrheit jetzt kenne, habe ich das Gefühl, dass sich die Fragen in meinem Kopf zur Unendlichkeit auftürmen.

Shadow of Past - Band IWo Geschichten leben. Entdecke jetzt