Bitterliches Weinen weckt mich. Es ist so unerträglich laut, dass ich als erste Handlung mein Gesicht verziehe.
»Adelaide, bitte sei still«, murmle ich.
Ich versuche, mich auf dem Boden zu bewegen, doch dann kommen mir meine gefesselten Hände in den Sinn und das ich mich nur minimal bewegen kann und die Hälfte meines Körpers abgestorben ist.
Doch das Weinen hört einfach nicht auf. Und es beginnt mich so sehr zu nerven, dass ich wünschte, ich hätte die Kraft zu schreien.
Schliesslich öffne ich die Augen und nachdem sich meine Sicht verfestigt hat und ich nicht mehr verschwommen sehe, erkenne ich deutlich, dass es sich bei der weinenden Person nicht um Adelaide handelt, sondern um Freya. Sie hockt zusammengekauert, in einem zerrissenen Kleid, neben einem bewusstlosen daliegenden Körper. Sie streicht ihm unaufhörlich über die kräftigen Schultern und Rückenpartie, während ihre andere Hand fast ihr gesamtes Gesicht einfängt.
»Freya...?«
Langsam hebt sie ihren Kopf an. Und da erkenne ich ihre zerzausten Haare, verschmierte Schminke und verquollenen Augen. Sie muss eine ganze Weile lang geweint haben. »Du bist wach. Gut... Ich dachte schon, du wachst gar nicht mehr auf, bis sie kommen.«
»Was ist passiert? Ist das... Levi?«
Zögerlich nickt sie, sieht dann wieder auf ihn hinab, als ob sie sicher gehen will, dass er wirklich noch da ist. »Ja... Sie haben ihn verprügelt. Mehrfach. Er ist seit eineinhalb Tagen bewusstlos. Als sie Fionn hier her brachten, haben sie mich zu Levi gebracht. Offenbar wollten diese sadistischen Schweine das ich zusehe, während sie ihn tot prügeln.«
Ich schlucke vor Übelkeit. Zum ersten Mal seit Stunden bin ich froh, dass ich nichts im Magen habe, dass ich auskotzen kann. Sonst wäre das gerade eben passiert.
»Das tut mir leid«, flüstere ich. Andere Worte finde ich zu diesem Zeitpunkt nicht, wobei ich auch nicht glaube, dass es tatsächlich passende Worte geben könnte, welche ich hätte aussprechen können.
Freya sieht erneut zu mir auf. »Mir tut es leid, was dir zugestossen ist, Emma. Du siehst furchtbar aus«, erwidert sie, den Tränen wieder so nahe, dass ihre Stimme verdächtig zittert.
Ich zucke vergeblich mit den Schultern. »Danke.«
»Ich habe deiner Mutter versprochen, dass dir nichts dergleichen passiert«, sagt sie leise, während sie den bewusstlosen Levi mit Tränenverschleierten Augen beobachtet.
Ich sehe ihr dabei zu, wie sie ihm liebevoll einige Haarsträhnen aus dem Gesicht hinter die Ohren streicht. Auf einmal tut mir ihre Liebe für ihn fast weh ihm Herzen.
»Freya, noch lebe ich, in Ordnung«, sage ich. »Niemand trägt Schuld daran.«
Darauf erwidert sie nichts, doch ich kann an ihrem gequälten Gesichtsausdruck erkennen, dass sie meinen Worten keinen Glauben schenkt.
Die Tür geht auf. Ein inzwischen vertrautes, ekelhaftes Geräusch, dass sicherlich für immer Gegenstand meiner Albträume sein wird. Wie auch die dunkel gekleideten Gestalten, die allesamt grimmig dreinblicken, als wären sie zum Töten geboren.
Und immer haben sie diesen starren Blick, weil sie einen bestimmten Auftrag haben und diesen erbarmungslos ausführen. Und das tun sie auch jetzt, als sie sich den bewusstlosen Levi schnappen, ihn am Hemd packen und ihn Richtung Tür schleifen.
»Nein!«, schreit Freya, während einer der Männer sie festhält. »Nein, nein, lasst ihn, bitte. Nein!«
Ihr Kreischen wird immer hysterischer, und auch wenn ich es von meiner misslichen Position aus nicht sehen kann, weiss ich, dass sie Freya gerade zwingen, Levi's Hinrichtung mit anzusehen. Und als ich eine Klinge höre, die aus ihrer Scheide gezogen wird und das dumpfe Eindringen einer tödlichen Waffe in einen wehrlosen Körper, wird mein Verdacht bestätigt.
Ihr Schrei ist so ohrenbetäubend, so herzzerreissend, dass selbst ein Mensch ohne Gefühle dabei nicht nichts empfinden könnte. Ich beginne selbst bitterlich zu weinen, lasse den Kopf hängen, weil ich weiss, dass es für keinen von uns ein Entkommen gibt. Und weil ich ihren Schmerz nachempfinden kann.
Sobald der Aufprall eines toten Körpers auf dem steinernen Boden ertönt, lassen die Soldaten Freyas bebenden, schluchzenden Körper los und verlassen den Kerker, als wäre nichts weiter geschehen.
Ich wünschte, ich könnte zu ihr rüber. Auch wenn wir uns nicht sonderlich nahe stehen und sie mich auf eine Art und Weise kennt, auf die ich sie nie kennen werde, überkommt mich das Gefühl, ihr mein Trost schuldig zu sein.
»Nein, nein, nein, nein, nein, nein«, ihr Murmeln wechselt ab und an in einen verzweifelten Aufschrei, dann wiederum in ein fürchterliches Schluchzen. Manchmal kann ich hören, wie sie immer und immer wieder seinen Namen sagt. Schliesslich sinkt sie zu Boden, die Hände unter dem Körper vergraben, ebenso die Knie und das Gesicht. Ich höre ihr Weinen nun nur noch gedämpft und ich traue mich nicht, sie anzusprechen.
Denn es gäbe nichts, was ich sagen könnte.
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Shadow of Past - Band I
FantasyEmma Sinclair fühlt sich durch die unerbittliche Strenge ihrer Mutter, der ständigen Forderung ihres Vaters und der Jahrhunderte alten Bürde, die auf ihr lastet, mehr und mehr einsam und verwirrt. Sie weiss nicht, wer sie ist und wohin sie gehört. S...