Brookwood Cemetery, London 1809
Freya Sinclair hat sich sichtlich verändert, seit ich sie in der Abfolge des Jahrhunderts das letzte Mal gesehen hatte. Es ist deutlich zu erkennen, dass sie merklich an Gewicht verloren hat, über ihren Augen liegt ein Schatten, als wäre sie Zeugin einer furchtbaren Begebenheit gewesen und selbst ihre Stimme ist irgendwie anders.
Ich sehe sie an, wie sie sich uns nähert, verlegen stehen bleibt und uns ebenso intensiv mustert, wie wir sie. Ich erkenne ihre Angst hinter der perfekten Fassade der willensstarken Freya Sinclair. Ich kann sehen, wie sie sich sträubt, wie sie sich wünscht, an einem fernen Ort zu sein, weit weg von all den Problemen.
»Ich bin froh, dich wohlauf zu sehen, Emma«, sagt sie dann. Ihre ersten Worte direkt an mich gerichtet, nachdem ich erfahren habe, wer ich wirklich bin.
»Sicherlich bist du inzwischen darüber informiert, weshalb alle diese Dinge geschehen mussten, nicht wahr?«, fährt sie fort, ohne auf meine Erwiderung zu warten.
Ich nicke, unsicher was ich sagen soll. Es fällt mir schwer, den Mund aufzumachen und ihr nicht die Wahrheit ins Gesicht zu schleudern. Eine Wahrheit, die ich kaum mir selbst gegenüber zugeben kann.
Ich bin wütend, unheimlich wütend auf jeden in meiner unmittelbaren Umgebung. Auf jeden, der auch nur ansatzweise seine Finger um mein Schicksal im Spiel hatte, hat und noch haben wird. Und dabei ist mir vollkommen bewusst, dass ich die Meisten nicht einmal kenne.
»Wie ist es dir ergangen?«, frage ich sie schliesslich bloss. Aufgrund ihres Aussehens, ihrer eindeutig ungesunden körperlichen Verfassung, eine berechtigte Frage, nehme ich an.
Sie seufzt und setzt sich dann neben mich. »Nun, die Lage scheint sich zuzuspitzen.«
Fionn bewegt sich das erste Mal an meiner Seite, seit Freya zu uns gestossen ist. Er beugt sich vor, damit er sie ansehen kann, während er spricht. »Hör zu Freya, wir sind wegen einer bestimmten Sache hier. Wir müssen dich unbedingt etwas fragen.«
Freya dreht interessiert den Kopf. Wegen des fahlen Lichts sehen die dunklen Ringe unter ihren Augen beinahe bedrohlich aus. Aber tatsächlich scheint sie schlicht und einfach an Schlafmangel zu leiden. »Wie kann ich helfen?«
»Ich... Mir ist da etwas seltsames und unerklärliches passiert. Als ich von feindlichen Angreifern auf der Flucht war, habe ich mich wohl ohne materiellen Anhaltspunkt in die Vergangenheit transportiert... Nun-«
Fionn unterbricht mich mitten im Satz. »Ich weiss von alten Büchern, dass du diese Gabe ebenso besitzt. Da weder Emma noch ich weiteres darüber wissen, hatte ich die Idee, dich persönlich danach zu befragen«, beendet er den Ursprung unserer Frage.
Freya sieht zuerst Fionn und dann mich mit sehr intensivem Blick tief in die Augen, dann wendet sie sich leicht ab. Ich kann an ihrem Gesichtsausdruck erkennen, dass sie mit der Situation überfordert ist. Sie scheint ihr Gehirn nach einer passenden Antwort zu durchforsten, etwas das sie sagen kann, eine Erklärung, die möglicherweise keine ist.
»Was weisst du darüber?«, stellt Fionn erneut seine Frage. Offenbar scheint er ihre Unsicherheit ebenso zu bemerken, wie ich.
»Es ist kompliziert«, meint sie dann kleinlaut. »Ich kann euch nicht helfen.« Dann steht Freya auf und geht mit eiligen Schritten in die Richtung, aus der sie gekommen ist.
»Was soll das bedeuten?«, rufe ich ihr hinterher und mache mich daran, ihr zu folgen. So einfach würde sie nicht davonkommen. Ich brauche Antworten, und nicht nur auf die eben gefragte Frage. Sondern auf noch so einiges Unklares im Inneren meines Kopfes.
»Freya, du kannst jetzt nicht einfach gehen«, stimmt Fionn ebenfalls mit ein, doch er hält mich an meinem Arm zurück. Offenbar will er verhindern, dass mein Temperament uns einen Strich durch die Rechnung macht. »Wir brauchen deine Hilfe. Emma riskierte ihr Leben als sie herkam. Nicht nur in dieser Zeit, sondern auch in der Gegenwart.«
Diese Worte machen ganz offensichtlich keinen guten Eindruck auf Freya. Wutentbrannt dreht sie sich zu uns um und sieht uns mit dunklen, zornigen Augen an. Das erste Gefühl, dass sie heute zeigt, welches tatsächlich etwas aussagt. »Ich riskiere mein Leben schon lange. Jeden Tag bin ich in grösster Gefahr«, keift sie, ignoriert Fionn und tritt an mich heran. »Wegen dir, Emma. Ich habe schon so viel verloren, während dieser Zeit. Alles was ich getan habe, war den falschen Weg einzuschlagen und jetzt bezahle ich den Preis dafür.«
Ich schüttle den Kopf; ihre Worte ergeben keinen Sinn. Die Verwirrung der zusammenhangslosen Vorwürfe, welche sie ausspricht, kann ich nicht ordnen. Und ich glaube, dass nicht einmal sie genau weiss, was sie da sagt.
Wut, Verzweiflung, Furcht und Frustration scheinen sich seit geraumer Zeit in ihrem Inneren aufgestaut zu haben. Und sie sucht nach Antworten für das Geschehene. Genau wie ich.
»Ich weiss nicht, wovon du sprichst«, erwidere ich mit eisiger Stimme.
»Ach, ist dem so? Du weisst sehr wohl, was mit mir passieren wird, nicht wahr? Ich weiss es auch: Ich werde sterben. Eines Hexentodes werde ich elend an einem brennenden Holzpranger sterben, nachdem ich dich endgültig fort und somit in Sicherheit geschickt habe. Du hast keine Ahnung, wie viele unschuldige, gute Seelen deinetwegen gestorben sind und noch sterben werden. Nur um dein Überleben zu garantieren«, zetert sie weiter. Ihre Stimme schwillt zu einem heiseren Krächzen an, beinahe schreit sie. »Ich habe mein Leben für dich gegeben, Prinzessin.«
Als sie diese Worte ausspricht, mit so viel Nachdruck, dass ihre Stimme bricht, spüre ich die Wahrheit dahinter. Sie ist es leid zu rennen, davon zu laufen... Sie will nicht mehr die sein, die sie ist. Nicht mehr Freya Sinclair, nicht mehr Angehörige einer mächtigen Familie der Zeitreisenden.
Noch bevor ich etwas erwidern kann, packt sie mich an der Schulter, reisst den hauchdünnen Stoff des Kleides, welches ich trage, auseinander und entblösst meine nackte Schulter der dunklen Nacht. Ich weiss nicht, was sie damit bezweckt und durch ihre unüberlegte Handlung rückt dem Bedauern und dem Mitleid erneut die Wut.
»Was soll das?«, rufe ich empört.
Freya ignoriert meine Frage und reisst ihr Kleid an der Schulter ebenso in zwei, wie meines. Sie stellt sich so hin, dass Fionn der einzige Zeuge unserer entblösster Haut ist. Zuerst ist er ebenso geschockt über Freya's zügelloses Verhalten wie ich, doch dann nimmt er unsere beider Schultern in Augenschein und seine Augen weiten sich zu grossen blau-weissen Kugeln, wie ich sie noch nie zuvor gesehen habe.
»Was zum Teufel...?«, raunt er und hebt die Hand wie von Geistern besessen. Er berührt meine warme, sensible Haut dort, wo der Oberarm ins Gelenk überläuft. Er zeichnet eine unsichtbare Linie nach, seine Finger scheinen sicher in ihrer Aufgabe. Doch was könnte er da sehen?
»Was tust du da eigentlich?«, frage ich ihn. Sind denn jetzt alle wahnsinnig geworden?
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Shadow of Past - Band I
FantasyEmma Sinclair fühlt sich durch die unerbittliche Strenge ihrer Mutter, der ständigen Forderung ihres Vaters und der Jahrhunderte alten Bürde, die auf ihr lastet, mehr und mehr einsam und verwirrt. Sie weiss nicht, wer sie ist und wohin sie gehört. S...