Meine Familie ist nicht nur erstaunt, sondern überaus bestürtzt mich zu sehen. So bestürtzt, dass sie für mehrere Sekunden nicht wissen, was sie sagen sollen.
»Was tust du hier?«, fragt meine Mutter schliesslich, tritt hinter Ava hervor, die sich doch zu freuen scheint, dass ich hier bin.
»Ich muss mit euch reden«, erwidere ich, ebenso kalt und unberüht, wie sie es zu sein scheint.
Ganz offensichtlich bin ich für sie noch immer ein Störfaktor, ganz gleich wie lange ich weg gewesen bin.
»Das ist ein völlig unpassender Zeitpunkt, junges Fräulein. Wir sind momentan damit beschäftigt, dass Chaos zu beseitigen, welches du hinterlassen hast.«
Ich muss an mich halten, um mich nicht wutentbrannt und wild schreiend auf sie zu stürzen.
Ich weiss nicht wieso, aber in letzter Zeit scheint nicht mehr viel meiner durchdachten, kontrollierten Persönlichkeit übrig zu sein. Und das finde ich wenig erfreulich.
Normalerweise hat mir meine Ruhe immer sehr viel Sicherheit gegeben, und eben Kontrolle. Eine Kontrolle über mich selbst, die mir niemand nehmen kann.
Aber möglicherweise hat es etwas Gutes, dass ich jetzt aus mir herauskomme, ausbrechen kann. Auch wenn es durch Wut passiert.
Fionn tritt vor mich, bevor ich etwas darauf erwidern kann. Nimmt mein Handgelenk und drückt mich fest. »Mrs. Sinclair, ich versichere Ihnen, wir werden nicht lange verweilen.«
Ich schnaube. Der will mich verarschen, oder?
»Wer bist du denn?«, fragt mein Vater, steht auf und sieht Fionn mit hochgezogenen Augenbrauen an. Ein klarer Eindringling in seinem Haus.
»Verzeiht, Sir, mein Name ist Fionn Mckenzie. Ich habe die letzten paar Tage auf ihre Tochter acht gegeben und ihr einen Unterschlupf angeboten«, erwidert dieser. Eine Verneigung fehlt noch, dann wäre es komplett lächerlich.
Wieso, um Himmelswillen, ist er so nett?
»Aha«, macht Vater, ich kann ihm die Wut allerdings ansehen. Was ich jedoch nicht verstehe ist, wieso er überhaupt wütend ist. Hat er ein Recht dazu?
»Nun, dann gibt es sicherlich einen trieftigen, und ausserordentlich wichtigen Grund für deine Abwesenheit, Emma«, fährt mein Vater fort, sieht mich auffordernd an.
Meine Mutter schnaubt abfällig, wedelt mit ihren Armen in der Gegend herum. »Ich bitte dich. Das kannst du dir sparen, wenn sie schon mit einem Mckenzie durchbrennt. Vermutlich hat sie vollkommen den Verstand verloren.«
»Überhaupt nichts habe ich verloren, Mutter«, keife ich sie an. »Eher im Gegenteil: Tatsächlich habe ich einige sehr interessante Erkenntnisse dazu gewinnen können.«
Erneut packt Fionn mich am Oberarm und drückt mich zurück, hinter sich, als ob er mich beschützen will.
»Ach, denkst du, ich weiss nicht, wieso du hier bist, Emma? Und mich mit diesem vorwurfsvollen Blick ansiehst, als wäre ich nichts weiter als eine widerliche Made?«, giftet Mutter zurück.
Hätte ich doch bloss den Mut dazu, sie anzubrüllen. All meine unausgesprochenen Worte der letzten Jahre würde ich ihr an Kopf werfen, all den aufgestauten Frust und die miesen Entscheidungen, welche ich ihretwegen fällen musste... Aber zusätzlich zu meinen Hemmungen, weiss ich auch, dass es absolute Zeitverschwendung ist, all diese Dinge anzusprechen. Sie wird mich niemals verstehen und weiterhin in ihrer engstirnigen, verfälschten Schein-Realität leben.
»Ich will wissen, warum!«, ist alles, was ich darauf erwidern kann.
»Moment mal, worum geht es hier?«, wirft Vater die Frage in die Runde. Seinem Gesicht nach zu urteilen, scheint er überhaupt nicht mehr dem Faden der Konversation folgen zu können.
»John, du Dummkopf. Wieso denkst du, ist sie verschwunden, nachdem ein Mckenzie sie mitgenommen hat? Sie weiss es.«
Mein Vater sieht zuerst komplett verwundert von Mutter zu Fionn. Dann, als er zu begreifen scheint, sieht er mich an. Er wirkt niedergeschlagen, beinahe ein wenig als würde er mich oder die Situation bedauern. »Oh... Nun, wir wurden nicht darüber informiert.«
»Es ist alles auch sehr unerwartet gekommen, Sir. Seien Sie versichert, dass Ihre Tochter alle Zeit in guten Händen ist. Wir werden sie nun beschützen.«
Wieso redet er für mich?
»Damit ist wohl das schottische Empire gemeint«, schnauzt meine Mutter.
Ich kann ihren Hass nicht nur hören, ich kann ihn förmlich spüren. Er dringt in jede Faser meines Körpers ein, wie ein namenloses, durchsichtiges Gift, das einen in Sekundenschnelle bewegungsunfähig macht.
»Wie dem auch sei, wir haben wohl nichts mehr dazu beizutragen, da du dich ganz offensichtlich für einen anderen Weg entschieden hast.«
Ich sehe sie an, als ob ich sie nicht richtig verstanden habe. Das soll ein Witz sein, oder?
»Welchen Weg denn? Dieser, dass ihr mich mein Lebenlang belogen und ausgenutzt habt? Oder den Weg der Wahrheit, den ihr mir offenbar niemals preisgegeben hättet«, sage ich daraufhin gehässig. Ihre Selbstgefälligkeit ist es, die mich wirklich zur Weissglut bringt.
»Wir hielten es nicht für angebracht, dich in Kenntnis zu setzen, junge Dame. Unsere Aufgabe war es, dich in Sicherheit zu wiegen, dich angemessen auszubilden und dir ein Dach über dem Kopf zu geben. Dies haben wir getan. Deine Wut ist also vollkommen unangebracht, wie du siehst.«
Ich starre sie an, ungläubig, zu tiefst erbost. In meinem Inneren wusste ich eigentlich, dass es so herauskommen würde, doch um ehrlich zu sein, ist es wohl doch die Hoffnung, die als letztes stirbt.
Ich tippe Fionn auf die Schulter, der sich daraufhin zu mir umdreht und mich mitleidig ansieht.
»Wir gehen«, sage ich zu ihm, »es ist alles gesagt. Ich habe genug gehört.«
Dann drehe ich mich um, ohne auf ihn zu warten, doch die schrille Stimme meiner Mutter hält mich auf.
»Was auch immer du vorhast, du sollst wissen, dass ich das nicht billigen kann: Dein Übergehen zur schottischen Macht. Ich werde nicht zulassen, dass du die Ehre und Errungenschaften dieser Familie durch deine Handlungen untergräbst«, sagt sie wutentbrannt, tritt näher an mich heran, sobald ich mich erneut umgedreht habe.
»Was willst du mir damit sagen?«, frage ich, während Fionn gleichzeitig sagt: »Soll das eine Drohung sein?«
Selbst bei ihm kann ich jetzt eine Regung an Wut vernehmen, auch wenn sie noch so schwach sein mag.
Auf das Gesicht von Mutter tritt ein selbstgefälliges Lächeln, welches aussagt, dass sie offenbar ganz zufrieden mit unserer empörten Reaktion ist.
»Sehr wohl, Mckenzie. Seht dies als Drohung einer Verfechterin der englischen Mentalität an. Und somit auch unserer Krone«, meint sie süffisant. Dann sieht sie mir fest in die Augen. »Und du solltest wissen, dass du niemals sicher sein wirst, solange du dich in Schottland verschanzt, dich nicht deinem Schicksal stellst. England wird deinen Kopf fordern, erinnere dich an meine Worte!«
»Wir verschwinden jetzt, Emma. Sofort«, sagt Fionn, greift nach meinem Oberarm und zerrt mich aus dem Wohnzimmer meines Elternhauses.
Ich fühle mich wie gelähmt, kann mich nicht rühren. Die Feindseligkeit mir gegenüber, die von meiner Familie auskommt, ist doch überraschender als ich gedacht habe.
Ich fühle erneut diese Einsamkeit, eine Verlorenheit inmitten einer wilden, verwirrenden Welt, die mich in seiner Mitte zu verschlingen scheint.
Was soll ich jetzt tun?
Und vor allen Dingen, wer bin ich überhaupt?
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Shadow of Past - Band I
FantasyEmma Sinclair fühlt sich durch die unerbittliche Strenge ihrer Mutter, der ständigen Forderung ihres Vaters und der Jahrhunderte alten Bürde, die auf ihr lastet, mehr und mehr einsam und verwirrt. Sie weiss nicht, wer sie ist und wohin sie gehört. S...