Früher, als ich diesen Ort nur als Ruine kannte, da habe ich mich immer gefragt, wie es wohl auf dem Innenhof ausgesehen haben muss... Mit diesem schönen Brunnen in der Mitte des Platzes, auf dessen Rand ich jetzt sitze.
Krampfhaft versuche ich nachzudenken, um endlich eine einigermassen sinnvolle Entscheidung aus meinem verwirrten, durchgedrehten Kopf zu bekommen. Wenn es nur so einfach wäre... Allerdings scheint nie auch nur die simpelste Sache in meinem Leben einfach zu sein.
Vermutlich noch so ein Fluch, mit dem ich geboren wurde.
Inzwischen kaue ich sogar auf meinen Nägeln herum, was überhaupt nicht schön aussieht und mein Stress-Level nur verdoppelt. Doch dennoch kann ich es nicht lassen, andererseits würde ich vermutlich explodieren.
Was mache ich denn jetzt bloss? Ich kann mir noch immer nicht vorstellen, für immer hier zu bleiben, andererseits gibt es auch nichts was dagegen spricht. Und ich wäre bei meinen Eltern, in einem Jahrhundert, dass ich schon immer verehrte, in einer Zeit, die noch etwas zu bedeuten hat. Wo echte, wahrhaftige Geschichte geschrieben wird.
Ich schaue zum gefühlt hundertsten Mal hinauf, zu den geschlossenen Fenstern, welche die Innenräume des Palastes abdichten. Als ob dort die Antwort auf meine Fragen stünden.
Doch egal wohin ich blicke: Nach oben, in den Himmel oder auf die steinerne Mauer mir direkt gegenüber. Ich kann nirgends Antworten sehen.
»Möchtest du darüber reden?«, spricht er mich an. Ich spüre seine Wärme kurz darauf, als er sich neben mich auf den Brunnenrand setzt. »Du gehst mir seit gestern Nachmittag aus dem Weg.«
Ich runzle die Stirn und erwidere seinen Blick. Er sieht mich mit weichen, sanften Augen an. Ich kann ihm ansehen, dass er mich aufheitern will. So wie immer, wenn mich etwas Lebensverändertes bedrückt. Was so ziemlich immer der Fall ist.
Meine Güte, mein Leben ist vielleicht ein Chaos.
»Ich bin doch ständig bei dir. Ausserdem-«, sage ich mit strenger Stimme. »was machst du hier draussen? Du solltest in deinem Bett liegen und dich nicht vom Fleck bewegen!«
Fionn grinst mich breit an und zuckt verschmitzt mit seinen Achseln, gerade so als ob er sich keiner Schuld bewusst wäre. »Ach, ich fühle mich grandios. Aufgrund deiner streitsüchtigen Aufruhr, die du losgetreten hast, bin ich wieder kerngesund.«
Ich hebe eine Augenbraue, pruste die Luft zwischen den Backen aus, sodass ein erschöpftes Geräusch entsteht. »Woher weisst du denn davon?«
Fionn wendet den Blick ab und folgt dem Bau des Palastes mit seinen Augen. Er scheint sich zu überlegen, wieso ich seit Stunden unbewegt hier draußen sitze. »Naja, die Zimmermädchen sind sehr gesprächig, wenn man erst einmal das Eis gebrochen hat, weisst du?«
Ich lache spöttisch. Mehr genervt als amüsiert. »Oh, ich bin davon überzeugt, dass du das Eis gebrochen hast. Du Charmeur.«
Fionn lacht schallend, durchaus amüsierter als ich es bin. Er rückt so nahe an mich heran, dass ich die langsam zurückkommende Kraft seines Körpers spüre. Seine Körperwärme beruhigt mich, genau wie sein üblicher Geruch. Vielleicht liegt das ja daran, dass es immer der gleiche ist, egal in welchem Jahrhundert wir uns befinden. »Ich bitte dich, du kennst mich doch. Ich kann nicht zulassen, dass eine Lady schlecht von mir denkt.«
Ich schüttle den Kopf, schnalze mit der Zunge und sage: »Ach, halt einfach die Klappe.«
Eine ganze Weile ist es still zwischen uns. Aber dann, irgendwann nimmt er meine Hand und drückt sie zwischen seinen grossen, knochigen Fingern, die langsam wieder ganz normal aussehen.
Unfassbar, was so ein bisschen Medizin ausrichten kann.
»König Francis hat mir erzählt, was geschehen ist«, höre ich ihn sagen. »Nachdem du heute Morgen nicht zum gemeinsamen Frühstück erschienen bist, hat er sich wohl Sorgen gemacht.«
Ich seufze tief; das ist nicht weiter verwunderlich. Aus irgendeinem Grund scheint Francis immer zu wissen, wann mich etwas bedrückt. Genau wie Fionn. Was vermutlich auch der Grund ist, wieso ich Francis bereits tief in mein Herz geschlossen habe, auch wenn ich keinerlei Erinnerungen an ihn als meinen Vater habe.
»Nun... Ich bin sicher, du hast einen grandiosen Rat für mich, nicht wahr?«
»Nein«, erwidert er kurzerhand und ganz unbekümmert. »Denn es ist kein Rat, eher eine Tatsache.«
Ich hebe fragend eine Augenbraue, als er nicht weiter redet.
»Emma, du bist die Tochter zweier Monarchen. Zudem die Tochter von Mary Stewart. Ich denke, es ist offensichtlich wo dein Platz in der Welt ist. Ausserdem... ich habe schon immer gewusst, dass in dir mehr steckt, als du vielleicht sehen kannst. Doch es gibt so viele menschen, die darauf gebaut haben, dass du dein Schicksal in die eigenen Hände nimmst; für das Wohl vieler und die Rettung des Volkes von Schottland.«
Ich wende den Blick ab. Er will also auch, dass ich hier bleibe. Aber was soll dann aus Fionn werden? Würde er bei mir bleiben, wenn ich ihn darum bäte? Würde ich zusagen, wenn er nicht hier bliebe?
Nein, stiesst die Antwort blitzartig durch meinen Kopf. Ich bin überrascht, dass meine Entscheidung von ihm abhängt, andererseits macht das auch Sinn: Er ist die einzige sichere Konstante in meinem Leben. Inzwischen ist Fionn alles, was ich noch kenne, alles was mir vertraut ist. Und vermutlich ist er auch der Einzige, dem ich mit Leib und Seele vertraue.
Aber kann ich ihn wirklich bieten, dass für mich zu tun? Es wäre eine Sache, wenn ich mein Leben im 21. Jahrhundert aufgäbe, denn da wartet, da ist nichts mehr für mich. Aber Fionn hat Familie, um die er sich kümmern und sicherlich auch Ziele, die er verfolgen will.
Wenn ich es mir so recht überlege, weiss ich kaum etwas über seine Zukunftspläne.
»Ich weiss nicht mehr, was richtig und was falsch ist« murmele ich leise vor mich hin, mehr an mich selbst gerichtet, als an ihn.
Dann kommt er noch näher, bis ich seinen Atem auf meiner Wange spüren kann. Wärme fliesst aus seinem Mund in meinen, als ich mich ihm zuwende und wir sehen uns einen langen Augenblick nur in die Augen. Dann lächelt er. »Erinnerst du dich daran, dass ich dir versprochen habe, mit dir bis ans Ende zu gehen? Ganz gleich wie diese Geschichte ausgehen wird.«
Einen Moment bin ich wie gebahnt, aber dann erwidere ich sein Lächeln. Ob das eine Antwort auf all meine unausgesprochenen Fragen ist?
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Shadow of Past - Band I
FantasyEmma Sinclair fühlt sich durch die unerbittliche Strenge ihrer Mutter, der ständigen Forderung ihres Vaters und der Jahrhunderte alten Bürde, die auf ihr lastet, mehr und mehr einsam und verwirrt. Sie weiss nicht, wer sie ist und wohin sie gehört. S...