London, England 2017
Ein Gewitter zieht auf. Ich kann es riechen, sehen, sogar fühlen. Als ich jünger war, habe ich den Regen geliebt, selbst ohrenbetäubend lauten Donner machte mir nichts aus.
Doch wenn ich jetzt hinauf blicke, in den beinahe schwarz gefärbten Himmel, ein Unheil über unsere Köpfen schwebend, so kräftig und gewaltig wie sonst kaum etwas auf dieser Welt, da läuft mir ein Schauer den Rücken hinab.
Fionn und ich sind gerade zurückgesprungen. Als wir losgingen, war es helllichter Tag und Sommerlich warm. Doch in den wenigen Stunden, in denen wir uns zweihundert Jahre in der Vergangenheit aufhielten, hat sich dies ins grobe Gegenteil verwandelt.
Wir gingen die viel besuchten Strassen Londons entlang, nachdem wir die U-Bahn zurück ins Stadtzentrum genommen haben. Ich bin mir nicht sicher, was wir noch hier tun, doch ich folge meinem Begleiter schweigend. Mir ist nicht danach, meinen Willen oder meine Meinung durchzusetzen.
Ich bin müde. Unendlich müde.
»Was ist los mit dir?«, fragt Fionn, während der seinen schwarzen Schirm aufspannt. Die dicken Tropfen plätschern bereits auf den Bordstein und hinterlassen ein rhythmisches Konzert in den Ohren der Passanten.
»Mir geht es gut. Wohin gehen wir?«, stelle ich ausweichend eine Gegenfrage. Mir ist nicht danach, mich mit ihm über mein seelisches Wohlbefinden zu unterhalten. Vielleicht, wenn alles einfach und weniger kompliziert wäre, dann würden wir zwei uns viel näher stehen, als ich jetzt zulassen kann. Vielleicht würden wir dann in solchen Momenten darüber sprechen; was mich bedrückt und weshalb.
Aber seit jeher ist es niemals meine Stärke gewesen, mich anderen zu offenbaren und ihnen von meinen Ängsten und Problemen zu berichten. Vermutlich liegt das an meiner erbarmungslosen Erziehung, dessen Philosophie es ist, niemals Schwäche zu akzeptieren, geschweige denn sie zu zeigen.
Er bedenkt mich zwar mit einem prüfenden, wissenden Blick, doch er scheint mich inzwischen gut genug zu kenne, um zu wissen, dass nachbohren bei mir keinen zum Ziel führt. »Wir gehen in die British Library.«
Ich runzle die Stirn. »Ist das nicht ein wenig zu öffentlich?«
Fionn zuckt mit den Schultern, doch ich kann die Sorgenfalten auf seiner Stirn identifizieren. »Kann sein. Doch der Bestand der Bibliothek umfasst Werke die bis ins 1600 Jahrhundert zurückgehen. Vielleicht finden wir etwas...«
Erneut bin ich mehr als nur verwirrt. »Denkst du etwa, wir finden Sachbücher über's Springen? Time-Travel for Dummies, oder wie?«
Fionn wirft mir einen kritischen Blick zu. Er schnalzt mit der Zunge, dann nimmt er erneut meinen Arm, damit ich dicht bei ihm bleibe. »Natürlich nicht. Aber in den Nationalbibliotheken jedes Landes gibt es eine geheime Sammlung an Büchern unserer bestimmten Talente. Aufzeichnungen, Situationsbeschriebe, ungewöhnliche Ereignisse, Listen mit berühmten Namen und selbstverständlich auch Bestimmungen der Zirkel.«
Ich staune über dieses neugewonnene Wissen. Wieso habe ich das bis jetzt nicht gewusst? Meine Eltern haben nie ein Sterbenswörtchen darüber verloren, aber was mich wirklich erstaunt, ist, dass ich auch im Hauptgebäude des Londoner Zirkel nie etwas davon gehört habe. Andererseits haben mich die Menschen da gehasst und dementsprechend auch nicht vertraut.
»Weisst du, Emma, ich glaube, Freya weiss sehr viel mehr, als sie uns sagen wollte. Und vielleicht hat das alles damit zu tun, weshalb sie tatsächlich ins Visier der Engländer kam«, gibt Fionn zu bedenken, doch ich verstehe seine Vermutungen nicht ganz.
»Ich dachte, sie sei wegen mir ins Visier der Engländer gekommen...«, erwidere ich.
Fionn wirft mir einen Seitenblick zu, den ich nicht ganz einordnen kann. »Aber wieso hat deine Familie dann zwei Jahrhunderte damit zugebracht, ihren Schaden wieder zu kitten? Dabei ging es nicht um dich, denn das war geheim. Die Gesellschaft wusste davon nichts, was man von der Entehrung der Familie Sinclair nicht gerade behaupten kann.«
Ich zucke mit den Schultern. »Mir wurde immer gesagt, es läge an diesem Fraser-Jungen. Aber seit das alles passiert ist, habe ich nicht mehr viel Zeit damit verbracht, mir darüber den Kopf zu zerbrechen. Zudem nehme ich an, ich sollte alles in Frage stellen, was meine Eltern mir so tagein tagaus verrieten.«
»Ist es nicht merkwürdig, dass Sinclair's über Generationen wütend, ja schier verzweifelt wegen einer heimlichen, ziemlich unschuldigen Affäre mit einem unwahrscheinlichen Schotten sind?«, wirft er die nächste Frage ein.
Wir treten gerade unter das Dach der Nationalbibliothek, als ich wegen seiner Überlegungen laut seufze. Was bringt es uns nach weiteren Geheimnisse zu schürfen, wenn wir die, welche wir bereits haben, ebenso wenig lüften können?
»Ich weiss es nicht, Fionn. Es klingt schon ein wenig lächerlich, aber was sollte es sonst gewesen sein? Und weshalb wurde ich all die Jahre im Dunkeln gelassen, während ich versuchte, den Familiennamen wieder rein zu waschen?«
Fionn und ich treten ins Warme. Und beinahe plötzlich überkommt uns ein angenehmer Geruch der Millionen von Büchern. Es ist hell erleuchtet mit stilvollen, klassischen Leuchten. Viele hohe Säulen aus cremefarbenen Stein und noch mehr Glas stürzt über einen ein, wenn man sich umsieht. Viele Tische mit Leselampen oder Computern sind überall in der riesigen Halle verteilt. Die Bücher stehen über und über in riesigen offenen Regalen nebeneinander.
»Weil du nun mal keine Sinclair bist, Emma. Und deine Eltern wollten ihre Familiengeheimnisse wohl kaum einer schottischen Monarchin weitergeben«, meint er, während wir den Weg zum Empfang ansteuern.
Ich schnaube abschätzig. »Im Grunde habe ich auch viel englisches Blut in mir, das weiss doch jeder.«
Fionn lächelt ein wenig und sieht mich mitfühlend an. »Vielleicht. Aber den meisten bedeutet das nichts. Genau wie Mary Stuart wurdest du in Schottland geboren und eisenhartes, wildes, schottisches Blut fliesst in deinen Adern.«
Aufgrund seiner Bezeichnung muss ich ein wenig grinsen. Sein Nationalstolz ist bewundernswert, jedoch nicht weiter verwunderlich, immerhin wusste er sein gesamtes Leben, wer er ist.
Fionn tritt an den Tresen des Empfangs und wird sofort von einer jungen Brünetten bemerkt, die sich kokett lächelnd daran macht, seinem Anliegen nachzukommen.
Ich drehe mich um, weil ich Fionn nicht dabei zusehen will, wie er mit irgendwelchen Frauen flirtet. Tatsächlich, und das merke ich in dieser Sekunde, macht es mir was aus, ihn so zu sehen.
Oh Gott, wie bescheuert ist das denn?, denke ich, von mir selber mehr als nur genervt. Ich habe momentan andere Sorgen, andere Dinge im Kopf, die wichtiger und dringlicher sind und meiner vollen Aufmerksamkeit bedürfen.
Dennoch drehe ich mich erneut um, nehme seinen breiten Rücken in Augenschein und wandere mit meinem Blick hin und her, bis ich den letzten noch so kleinen Winkel untersucht habe. Und dann muss ich mir eingestehen, dass ich es nicht mehr länger leugnen kann, und sich da etwas in mir regt, wenn ich ihn ansehe. Selbst jetzt, da sein Rücken alles ist, was ich sehe.
Verdammt!
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Shadow of Past - Band I
FantasyEmma Sinclair fühlt sich durch die unerbittliche Strenge ihrer Mutter, der ständigen Forderung ihres Vaters und der Jahrhunderte alten Bürde, die auf ihr lastet, mehr und mehr einsam und verwirrt. Sie weiss nicht, wer sie ist und wohin sie gehört. S...