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Am nächsten Morgen wachte Paddy unausgeschlafen aus. Normalerweise war das früher Aufstehen mit der Zeit überhaupt kein Problem mehr, doch heute fühlte er sich matt. Nachdem sich Maite und Florent gestern Abend verabschiedet hatten, half Paddy eifrig mit beim Aufräumen und verzog sich wenig später in seine Kammer zum stillen Gebet zurück. In seinen Gedanken ließ er den Tag noch einmal Revue passieren und lächelte leise in sich hinein, als er daran dachte, wie viel Spaß seine Nichten mit ihm hatten. Behutsam griff er in seine Kutte und holte Agnes Kunstwerke hervor, die er entfaltete und mit Reißzwecken an der Wand, gegenüber dem Bett, pinnte. Paddy betrachtete die Kunstwerke seiner Nichte und wurde schmerzhaft an Hannah erinnert, wollte wissen wie es ihr geht und ob sie glücklich war. Dass sie doch in gewisser Weise in der Nähe seiner Familie war, war sie doch viel weiter weg, als er eigentlich wollte. Seine Neugier war durch Agnes noch stärker geworden; wie sah sie jetzt aus? War sie immer noch ein Sturkopf und was die viel wichtigere Frage war; dachte sie ab und zu mal an ihn? Vielleicht hätte er sich, bevor er ins Kloster ging, von Hannah verabschieden sollen, so wie er es vorhatte. Vielleicht war sie deswegen wütend auf ihn und kam deshalb nie auf die Idee ihn zu besuchen? Paddy schüttelte den Kopf: „Das ist doch alles Blödsinn.", sagte er zu sich selbst und schmiss sich aufs Bett, um zu schlafen. In der Nacht träumte er jedoch wirres Zeug und wälzte sich hin und her.

Völlig gerädert betrat Paddy den Speisesaal und beschloss nur einen Tee zu trinken. Nach der miesen Nacht hatte er keinen Appetit. Er hörte nur mit einem Ohr den Gesprächen seiner Mitbrüder zu und starrte Löcher in die Gegend. „Bruder John Paul Mary, du solltest auch etwas zu dir nehmen.", sagte der Bruder, der ihm gegenüber saß. „Ich fühle mich heute nicht so besonders.", antwortete Paddy wahrheitsgemäß und nahm einen Schluck aus seiner Tasse. „Vielleicht solltest du einmal beim Arzt vorbei schauen. Du siehst schon seit Tagen nicht gesund aus." Paddy versprach dem Bruder dieses zutun, ob er seinem Rat jedoch wirklich nachging, wusste er noch nicht. Sein schlechtes Befinden schrieb er seinem Schlafmangel der letzten Tage zu. Nach dem Frühstück war Paddy einer der ersten, der die Kirche betrat und zusammen mit Bruder Clemens die Kerzen anzündete und die letzten Vorbereitungen für die Adventsmesse traf. Die Kirche füllte sich nach und nach. Viele Gesichter kannte Paddy, da sie öfter die Messe am Sonntag besuchten. Kurz vor Beginn der Messe kamen auch Maite, Florent und die Kinder in die Kirche gehetzt. Sie winkten Paddy schnell zu und nahmen in den hintersten Reihen Platz. Wie zu jedem 2. Advent wurde die Geschichte von Johannes dem Täufer vorgetragen und um diese Geschichte die Predigt aufgebaut. Paddy verkniff sich ein Gähnen und versuchte krampfhaft Bruder Clemens zu folgen, doch es gelang ihm einfach nicht. „Was ist bloß heute los?", fragte er sich selbst und ärgerte sich selbst über seine Unaufmerksamkeit. Die Messe zog sich hin, als endlich der Segen gesprochen wurde und die Gemeinde in den Sonntag entlassen wurde. Paddy blieb einen Moment sitzen, um sich zu fangen ehe er zu seiner Schwester ging, die versuchte Agnes bei Laune zu halten. Als er langsam auf Maite zu ging, sah er schon den besorgten Blick seiner Schwester. Agnes lief auf Paddy zu, der sie sogleich in die Arme schloss. „Das war wirklich eine sehr schöne Messe.", sagte Florent. „Das ist wirklich ein glorreicher Abschluss für dieses Wochenende, findest du nicht?" Er drehte sich zu Maite, die Paddy skeptisch ansah. Flüchtig nickte sie Florent zu, ehe sie sich an ihren Bruder wendete. „Du solltest dich mal untersuchen lassen. Du siehst fiebrig aus." Paddy seufzte und rollte mit den Augen. „Ja, das habe ich auch vor." Erleichtert nahm Maite ihren Bruder in die Arme. „Es war so schön bei dir. Bis hoffentlich ganz bald, ja?" Er erwiderte die Umarmung seiner Schwester und nickte. „Sicher." Anschließend verabschiedete er sich von Florent und kniete sich zum Abschied zu Agnes und Josephine herunter. „Und ihr passt mir schön auf eure Eltern auf, ja? Kommt ihr mich auch nochmal besuchen?" Agnes und selbst die zurückhaltende Josephine fielen ihren Onkel um den Hals. „Also dann, fahrt vorsichtig." Maite drückte ihren Bruder ein letztes Mal. „Ja, das machen wir und du studierst schön weiter. Wenn etwas ist, kannst du dich ja melden." Paddy nickte und begleitete seinen Besuch noch nach draußen, ehe sie in ihr Auto stiegen und er ihr hinterher gewunken hatte.

Nachdem Maite sich verabschiedet hatte, hatte Paddy das Bedürfnis sich in irgendeiner Weise zu beschäftigen. Der Sonntag nach der Messe stand den Brüdern für Aktivitäten frei zu Verfügung, so dass er sich in seine Kammer zurückzog, um zu malen. Doch heute brachte ihm das Zeichnen keine Genugtuung. Selbst das Lesen in der Bibliothek oder das Studieren seiner Philosophienotizen erfüllten nicht ihren Zweck, die er erwartet hatte. Immer und immer wieder hatte er Melodien im Kopf, die immer lauter wurden. Paddy sträubte sich schon seit vielen Jahren vor der Musik. Sicher hat er auf einigen Messen und Veranstaltungen Gitarre gespielt und gesungen, doch es dauerte seine Zeit, bis Paddy überhaupt wieder ein Instrument in die Hand nahm. Die Melodie in seinem Kopf wurde immer lauter, so dass er anfing diese zu summen und zu pfeifen. Wie ein Ohrwurm aus dem Radio wurde er diese Melodie nicht mehr los. Schlussendlich hielt er es nicht mehr aus und durchquerte mit schnellen Schritten die Flure des Klosters bis in den Keller als er vor einer schweren Eichentür stehen blieb. Er zögerte eine Weile, ehe er an der Tür lauschte und klopfte. Als keine Reaktion kam, öffnete Paddy langsam die Tür und betrat ein staubiges Zimmer, in dem ein altes Klavier, Notenständer und zwei Gitarren standen. Mit zittrigen Händen betrat Paddy den Raum und schaute sich um. Auf den Notenständern lagen einige Musikstücke und das Klavier war ganz verstaubt. Sein Blick wanderte zu den Gitarren, von denen er wie von Zauberhand magisch angezogen wurde. Er begutachtete einer dieser, setzte sich auf einen Stuhl und zupfte behutsam an den Saiten. Die Gitarrensaiten waren vollkommen verstimmt, so dass Paddy das Gesicht verzog als er eine leichte Akkordabfolge spielte. Er drehte an den Schrauben der Saiten und musste mit einem Lächeln feststellen, dass das Stimmen der Gitarre länger dauerte als früher, doch er es immer noch ohne Stimmgerät hinbekommen hatte. Langsam und unsicher fing er an die Melodie, die er schon den ganzen Tag im Kopf hatte, zu spielen, suchte die passenden Töne und vergaß dabei die Zeit. Paddy wusste nicht wie lange er im Musikzimmer hockte, schreckte jedoch hoch als Bruder Benoit im Türrahmen erschien. „Hier steckst du. Wir haben dich schon überall gesucht. Die Andacht geht gleich los." Erschrocken hörte Paddy auf zu spielen und starrte Bruder Benoit an. „Ist es schon so spät? Tut mir leid, ich habe wohl die Zeit vergessen." „Das, was du da gerade gespielt hast, klang sehr schön.", sagte Bruder Benoit. „Von wem ist dieses Stück?" Paddy stellte die Gitarre zurück und blickte verlegen zu Bruder Benoit. „Es ist von mir. Ich hatte diese Melodie im Kopf und musste sie irgendwie loswerden." Gemeinsam gingen sie die Treppen hinauf, um an der Andacht teilzunehmen.

Von diesem Tag an, verzog Paddy sich jeden Sonntag für zwei Stunden im Musikzimmer und spielte leise vor sich hin. Hin und wieder schrieb er zu seinen neu komponierten Melodien auch Texte, behielt diese jedoch so gut er konnte unter Verschluss. Selbst seine Brüder bekamen mit, dass Paddy sich regelmäßig im Musikzimmer zurückzog und lauschten viele Male an der Tür. Auch Bruder Bernard bekam das Musizieren von Paddy mit und lächelte bei dieser Nachricht in sich hinein, denn er wusste, dass er die Musik brauchte, um seine nächsten Schritte mit guten Gewissen gehen zu können.

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