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Für Hannah ging das Wochenende viel zu schnell vorbei. Sie genoss es einfach in den Tag zu leben und mit Leon Zeit zu verbringen. Am Sonntagabend holte sie jedoch der gewöhnliche Alltag wieder ein, als Arthur anrief und Leon bat sich die nächsten Tage um Makeda zu kümmern, da er selbst mit einer Salmonellenvergiftung im Krankenhaus lag. Hannah war vorerst überhaupt nicht begeistert, als Leon anfing seine Sachen zu packen, musste sich dann jedoch eingestehen, dass sie dasselbe getan hätte, wenn sie von einen ihrer Kollegen gefragt wurde.

Spät am Abend fuhr Hannah Leon zum Bahnhof und verabschiedete sich von ihm. „Wir sehen uns dann ja am Mittwoch, oder?", fragte sie, umarmte Leon und gab ihm zum Abschied einen Kuss, während Leon ihre Verabschiedung erwiderte und nickte. Wehmütig sah sie ihm hinterher, wie er in den Zug stieg und ihr nochmal zuwinkte, ehe sich die Türen des Zuges schlossen und sie noch lange am Bahnsteig stand und dem wegfahrenden Zug hinterher sah. Mit schnellen Schritten ging sie zu ihrem Auto zurück und fuhr Gedanken verloren zurück in ihre Wohnung. Es war schon sehr spät, dennoch war Hannah noch nicht müde und wollte noch nicht zu Bett gehen. Einen Moment wusste sie nicht, was sie mit sich anfangen sollte, bis ihr etwas in den Sinn kam. Sie selbst fand die Idee absurd, als sie ihr Wohnzimmer mit ihrem Blick abging und ihre uralte Gitarre ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Langsam ging sie zu dem ein wenig verstaubten Instrument und strich über die Saiten. Hannah verzog das Gesicht, als sie die schiefen Töne hörte und setzte sich auf die Lehne ihres Sessels, um behutsam an den Schrauben zu drehen und die Saiten zu stimmen. Hannah war ein wenig eingerostet, dennoch schaffte sie es den einen oder anderen Akkord zu spielen. An ihrer Gitarre zupfend, starrte sie aus dem Fenster. Es war stockdunkel. Nur die einzelnen Straßenlaternen spendeten ein wenig Licht und erleuchteten die Straße. Im Schein der Laternen surrten die letzten Mücken und Nachtfalter, die gegen die aufkommende Kälte robust waren. Hannah überlegte, wann sie das letzte mal Gitarre spielte. Als Jugendliche hatte sie immer zusammen mit ihrem Bruder fleißig geübt, doch nachdem er starb hatte sie ihre Gitarre nicht mal mehr angeschaut. Sicher, sie hatte in Äthiopien ein wenig gespielt. Das aber auch nur für den Unterricht und nicht für sich selbst. Sie erinnerte sich, dass Paddy sie einst ermutigte wieder zu spielen und ihr sogar anbot Unterricht zu geben. Unwillkürlich musste sie lächeln als sie daran dachte und erinnerte sich daran, wie sie zusammen mit Maite und Angelo aus Spaß jammten und aus ihren Ideen tatsächlich ein Lied daraus geworden ist. Als Hannah an all das zurück dachte, spielte sie immer weiter Gitarre, bis ihr klar wurde, dass sie tatsächlich die ersten Töne von „I feel love", spielte. Erschrocken von sich selbst, ließ sie ihren Gedanken freien Lauf und dachte wieder an Paddy, wie mit seiner Gitarre auf dem Fußboden des Hotelzimmers hockte und eben dieses Lied sang und sie nur den Drang verspürte ihn zu küssen.

Als eine Saite der Gitarre riss, wurde Hannah aus ihren Gedanken gerissen. Langsam ließ sie die Gitarre aus ihren Händen zum Boden gleiten und schüttelte leicht den Kopf, als ob sie sich selbst aus einer Ohnmacht holen wollte, stellte ihre Gitarre zur Seite und zog ihre Vorhänge zu. Ohne großartig nachzudenken schnappte sie sich ihr Handy, das auf dem Couchtisch lag, und fing an eine Nachricht zu tippen:

>>Verrückt. Nach all den Jahren kann ich echt noch Lieder von euch spielen. Mir ist I feel love eingefallen und musste...<<

Mitten im Satz hörte Hannah auf zu tippen. ‚Was zur Hölle mache ich hier?', fragte sie sich und löschte hastig die Nachricht. Stattdessen schmiss sie ihr Handy in die Sofakissen und spürte wie hier Gesicht anfing zu glühen. Sie wusste, dass sie es sich nicht erlauben konnte und durfte Paddy überhaupt so etwas zu schreiben. Es ging einfach nicht. Die Beziehung zu Paddy war einfach zu kompliziert, zu verzwickt, wenn da überhaupt noch etwas wie eine Beziehung war.  Mit hochroten Kopf ging sie ins Badezimmer, machte sich bettfertig und putzte sich dabei akribisch die Zähne. Auf der einen Seite schämte sie sich, dass sie in Erinnerungen schwelgte, aud der anderen Seite hatte sie nichts falsch gemacht oder beging einen Fehler. Dass sie Paddy schreiben wollte, konnte sie immerhin vereiteln. Als sie in ihr Schlafzimmer ging, würdigte sie ihrem Handy keines Blickes und legte sich ins Bett, um noch ein wenig zu lesen, doch sie konnte sich nicht auf ihr Buch konzentrieren. Immer wieder musste Hannah daran denken, was sie gerade fast getan hätte. Schließlich gab sie es auf und holte ihr Handy.


>>Hey, ich hoffe, du bist gut in Frankfurt angekommen. Ich habe das Wochenende sehr genossen. Kann es kaum erwarten, dich wiederzusehen. Grüß Makeda von mir. Ich liebe dich<<


Ohne auf eine Antwort zu warten, knipste Hannah das Licht aus und zwang sich förmlich an Leon und das Wochenende zu denken, das sie gemeinsam fast nur im Bett verbrachten. Schließlich schlief Hannah ein, wenn auch wesentlich später und unruhiger als sonst.


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