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Nach einem kleinen Nickerchen und einer ausgiebigen Dusche stand Hannah mitten im Keller und verschaffte sich einen Überblick. Die Kartons mit Hannahs Habseligkeiten standen kreuz und quer im Keller, einige waren übereinander gestapelt, so dass die untersten Kartons durch das Gewicht der Oberen eingedrückt wurden. Selbst die Beschriftung war teilweise verblasst. Hannah atmete laut aus und stemmte die Hände in die Hüfte. „Na dann mal los.", sagte sie zu sich selbst und schnappte sich den ersten Karton, von dem sie vermutete, dass dieser hauptsächlich Kleidung beinhaltete. Mithilfe ihrer Mutter schafften sie es binnen weniger Stunden zumindest ihre Kleidung zu sortieren, packten die Klamotten, die Hannah noch tragen wollte, fein säuberlich gefaltet in neue Kartons, während sie die, die sie nicht mehr brauchte, in  Andere packte. „Und was willst du mit den Klamotten machen?", fragte Tina und zeigte auf die aussortierten Stapel an Kleidung. Hannah überlegte kurz, ehe ihr ein Licht aufging. „Weißt du was? Die Sachen sind ja noch echt gut und eigentlich viel zu schade, um sie wegzuschmeißen. Gibt es den Rotkreuz-Shop noch?" Als Tina nickte, strahlte Hannah. „Wunderbar. Dann bringe ich meine Sachen dort hin. Die können damit sicherlich etwas Nützliches anfangen." Gemeinsam verpackten sie den Rest und schufen die Kartons für den Second Hand Laden nach oben. „Heiliger Bimbam! Es ist schon so spät?", rief Hannahs Mutter erschreckt, als sie auf die Uhr schaute. „Ich bin noch mit Jenny verabredet." Hannah runzelte die Stirn. „Jenny? Wer ist das denn?" „Eine alte Kollegin von mir. Sie hat heute Geburtstag. Meine Güte, das habe ich ganz vergessen. Macht es dir etwas aus, wenn du hier alleine weiter machst? Du kannst auch gerne mitkommen, wenn du magst." Hektisch eilte Tina in die Küche und suchte in einer Schublade nach der Einladung. „Wie konnte ich das nur vergessen! Ach Hannah, das tut mir jetzt ehrlich leid. Ich hätte Jenny absagen sollen." Hannah lächelte ihre Mutter an und machte eine flüchtige Handbewegung. „Mach dir keine Sorgen. Ich komme auch gut alleine zurecht. Geh du ruhig zu der Verabredung, ich kann die Sachen auch alleine zum Rotkreuzladen fahren. Sie schaute ebenfalls auf die Uhr. „So spät ist es ja noch nicht. Der Laden hat sicherlich noch auf." Während Hannahs Mutter sich für den Geburtstag fertig machte, verfrachtete Hannah die aussortierten Kartons im Wagen ihrer Mutter. Vorher informierte sie sich, wo sie die Sachen abgeben konnte und fuhr direkt zur Hauptgeschäftsstelle nach Ehrenfeld. Ein Mitarbeiter des DRK schaute prüfend in die Kartons und bedankte sich anschließend freundlich bei Hannah.

Als sie vor die Tür trat, fühlte sie sich glücklich und zufrieden. Die gute Tat, die sie gerade vollbracht hatte, machte sie ein wenig euphorisch. Trotz ihrer Müdigkeit beschloss Hannah das Auto zu Hause abzustellen, um anschließend einen Spaziergang durch ihre alte Wohngegend zu machen. Zudem spürte sie langsam, aber sicher, das Hungergefühl in ihrem Magen und beschloss auf dem Rückweg an der kleinen Pizzeria vorbeizugehen. Gemütlich schlenderte Hannah in der frühen Abenddämmerung durch den nahe gelegenen Park. Ein großes Grinsen machte sich in ihrem Gesicht breit, als sie daran dachte, wie oft sie damals mit ihrem Labradormischling Pad, der gemeinerweise nach Paddy benannt war, hier am Teich spazieren ging und ihr immer eine treue Seele war. Sie dachte auch daran, wie sie sich immer mit Ben, ihrer ersten großen Liebe, hier getroffen hat. Viel zu viele Erinnerungen ihrer Kindheit, die sie mit diesem Park in Verbindung brachte, gingen ihr durch den Kopf. Mittlerweile dachte sie gerne an ihre Jugend zurück, dachte an Ben und auch wie das damals mit ihm zu Ende ging. Dennoch konnte sie nun darüber lachen. Vor einigen Jahren traf sie Ben auf einem Klassentreffen wieder. Er war nun als Dermatologe in Berlin tätig, verheiratet und Vater von zwei Kindern.

Ein lautes Bellen ließ Hannah aus ihren Gedanken hochschrecken. Zwei große Schäferhunde rannten geradewegs zum Teich. Sie schaute dabei zu, wie die Zwei wild im Wasser herum plantschten. Wieder dachte sie an Pad, wodurch sie wiederum an einen Tag erinnert wurde, an dem sie mit Maite, Angelo und Paddy hier war und sie Pad aus dem Teich angeln musste. Hatte sie sich damals nicht auch Paddy gestritten? Wegen was konnte sich Hannah nicht in Erinnerung rufen. Als sie jedoch daran dachte, wie sie Paddy einen aufgeblasenen Gockel nannte, prustete sie drauf los und lachte. Einige Spaziergänger schauten sie bei ihrem kleinen Lachanfall skeptisch an. Vermutlich fragten sie sich, was mit ihr nicht stimmte und hielten sie für verrückt, aber das war ihr egal. Sie fühlte sich wohl und war überglücklich wieder zu Hause zu sein.

Auf dem Rückweg machte sie an einer kleinen Pizzeria halt und bestellte eine große Pizza mit Artischocken, Schinken, Champignons und eine extra Portion Käse zum Mitnehmen. Mit knurrenden Magen betrat sie das Haus ihrer Kindheit, stellte die Pizza im Wohnzimmer ab und eilte schnell nach oben, um sich eine bequeme Jogginghose anzuziehen. Sie schmiss den Fernseher an und aß während einer Kochsendung genüsslich ihre Pizza, als es an der Tür klingelte. Fragend blickte Hannah auf die Uhr. Es war schon relativ spät, so dass sie annahm, ihre Mutter würde schon wieder von der Geburtstagsfeier zurückkommen. Mit einem Stück Pizza in der Hand schlürfte Hannah zur Tür und nahm einen großen Bissen davon, ehe sie die Tür öffnete, doch es war nicht ihre Mutter, die vor ihr stand. Mit großen Augen blickte sie erschrocken in ein freundliches Gesicht, dessen Mund sich bei ihrem Anblick zu einem breiten Grinsen verwandelte. Die blauen Augen funkelten schelmisch und strahlten zugleich so eine Zuneigung aus, dass Hannah sich verschluckte. Unbeholfen versuchte sie ihren Hustenanfall in den Griff zu bekommen und wischte sich alles andere als elegant ihr mit Pizza verschmierten Mund mit ihrem Ärmel ab. „Was zur Hölle machst du denn hier?" krächzte Hannah und rieb sich über die durch den Hustenanfall mit Tränen gefüllten Augen. Das Grinsen wurde noch breiter, wodurch das Gesicht gegenüber noch Jugendlicher erschien. „Du hast doch geschrieben, du könntest Hilfe beim Packen gebrauchen. So wie es aussieht kannst du aber viel eher Hilfe beim Pizza essen gebrauchen.", lachte Paddy. Wie in Trance trat Hannah zur Seite und ließ Paddy eintreten, der zielgerichtet ins Wohnzimmer schlenderte. Als sie die Fassung wiedergewann, legte sie ihr angebissenes Stück Pizza zurück in den Karton und versuchte die richtigen Worte zu finden. „Wie...? Warum...? Aber...? Also...das haut mich jetzt echt von den Socken!" Wieder lachte Paddy. „Du, wenn du mit deiner Pizza alleine sein willst, kann ich auch gerne wieder gehen." „Was? Nein, quatsch. Lass mich das nur mal kurz realisieren, ok?" Wie ein nasser Sack ließ sich Hannah auf einen Stuhl fallen und glotze Paddy, der es sich mittlerweile auf dem Sofa bequem gemacht hat, schamlos an. Immer wieder schüttelte sie unglaubwürdig den Kopf, traute immer noch ihren Augen kaum. „Ich hätte nie gedacht, dass du hier wirklich auftauchst. Zumindest nicht heute." Sie suchte immer noch die richtigen Worte. „Willst du etwas von der Pizza?", fragte Hannah als ihr einfach gar nichts mehr einfiel. Paddy nickte langsam und griff zögernd nach einem Pizzastück. Hannahs Reaktion ließ Paddy nun doch allmählich an seiner Aktion zweifeln. Vielleicht hätte er sich doch vorher melden nochmal melden sollen? „Tut mir leid, ich hätte dich nicht so überfallen sollen.", sagte Paddy als er und Hannah schweigend die Pizza verdrückten, doch Hannah versuchte die Situation runterzuspielen. „Nein, nein. Alles gut. Wie gesagt, ich habe einfach nur nicht damit gerechnet, dass du hier auf einmal auf der Matte stehst." Sie versuchte so legere wie möglich zu klingen. In ihrem Inneren überschlugen sich jedoch die Gedanken. Die Situation war für Hannah alles andere als angenehm. Ihre Hände fingen an zu schwitzen, ihre Versuche möglichst locker zu sein, scheiterten und ihre Nervosität resultierte in Herzrasen und innere Unruhe. „Jetzt reiß dich doch mal zusammen", dachte sich Hannah und versuchte ihren Köper und Geist wieder zur Ordnung zu rufen. Warum sich Hannah so unbehaglich fühlte, konnte sie sich selbst nicht erklären. Sie wusste nur, dass es sich für sie ganz anders anfühlte als in meilenweit entfernten Äthiopien, fern ab von alten Gedanken und Erinnerungen, die in Köln schlummerten.

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Ihr Lieben,

endlich habe ich es mal wieder geschafft ein Kapitel fertig zu schreiben. Ich hoffe, ihr verfolgt die Geschichte immer noch und nehmt es mir nicht übel, dass ihr so lange auf ein Kapitel warten musstet. Und seid bitte gnädig, ich bin ein wenig eingerostet ;-) Viel Spaß beim Lesen!

Was wäre wenn?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt