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„Warum muss denn bei mir immer alles so beschissen laufen? Es ist spät in der Nacht und ich kann nicht schlafen, dabei bin ich so dermaßen müde, dass ich wahrscheinlich schon zu müde bin, um überhaupt zu schlafen. Der Flug war grässlich. Nicht, dass ich fliegen an sich schon hasse, geschweige denn mit IHM zu fliegen (ich habe noch nie so etwas Unangenehmes ertragen müssen). Nein, dazu kommen noch die schlimmsten Turbolenzen, die ich je auf einem Flug miterleben musste. So schweißnasse Hände hatte ich noch nie und ich hatte auch noch sie so eine Angst, dass mir die Luft wegblieb. War das eigentlich schon eine Panikattacke? Ich weiß es nicht. Und wer war da und stand mir in meiner Panik zu Seite? Natürlich der einzige, der mich auf diesem Flug persönlich kannte. Je länger ich darüber nachdenke, desto peinlicher ist es mir. Wir haben Wochen, wenn nicht sogar Monate lang nicht mit einander geredet. Von Freundschaft ist schon gar nicht mehr die Rede. Flüchtige Bekannte, weit entfernte Arbeitskollegen trifft es wohl eher. Und trotzdem...trotzdem war er es, der mich beruhigen konnte, bevor ich kollabierte und ich bin doch irgendwie auf eine komische Art dankbar, dass er da war. Wie kann man nur so ein zweischneidiges Schwert sein? Auf der einen Seite so kalt, so distanziert und dann, wenn es darauf ankommt, so einfühlsam und vertraut? Ich habe fast vergessen, wie vielsagend seine Augen sein können, wie viel diese ohne Worte sagen können. Ich hatte schon lange nicht mehr das Gefühl, jemanden so tief zu vertrauen. Wie ein pulsierender Schlag ging seine Berührung von den Fingerspitzen bis ins Mark...und dann...war alles vorbei, ich war beruhigt und die Welt um mich herum drehte sich wieder in normaler Geschwindigkeit. Was für ein Bullshit ich hier schreibe. Ich will nicht so denken. Das liegt sicherlich an den Umständen, an Äthiopien. Ich will hier nicht mit IHM sein. Vor allem nicht so nah. Wie kann man nur so viel Pech haben? Wieso musste das mit der falschen Zimmerbuchung ausgerechnet jetzt passieren? Wenn ich mit Emil gereist wäre oder mit jeder anderen Person, wäre mir das sowas von egal. Jetzt finde ich es einfach mehr als unangenehm und vor allem auch unangebracht. Das darf nicht so sein. Es darf mich einfach nicht so aus der Bahn werfen. Oder will mich das Schicksal auf die Probe stellen? Was willst du mir damit andeuten, Schicksal?"

Schnaufend klappte Hannah ihr Notizbuch zu und erschrak ein wenig, als sie realisierte, wie laut das Zuschlagen gewesen war. Vorsichtig drehte sie sich zu Paddy, der seelenruhig schlief. Sie war erleichtert, dass sie ihn nicht geweckt hatte und legte ihren Kopf auf ihren angezogenen Beinen ab, nachdem sie nochmals ihre geschriebenen Zeilen las und ihr Notizbuch langsam aus ihren Händen glitt. Ihre Augen wurden immer schwerer, so dass Hannah sich selbst in den Schlaf wiegte.

Nach zwei Stunden Schlaf wurde Hannah von der Toilettenspülung des Hotelbadezimmers geweckt. Sie hob langsam ihren Kopf und wischte sich Speichel aus dem Mundwinkel sowie von ihrem Unterarm. Ein wenig angewidert von sich selbst stand sie auf und streckte ihren gesamten Körper, der durch diese seltsame Schlafposition schmerzte. „Guten Morgen, hast du die ganze Nacht auf dem Boden verbracht?" Paddy kam bereits komplett angezogen aus dem winzigen Badezimmer und verstaute seinen Kulturbeutel in seiner Reisetasche. Noch bevor Hannah überhaupt antworten konnte, fragte er, wann sie los müssten. Dabei schaute er geschäftsmäßig auf die Uhr seines Handys und mied jeglichen Blickkontakt zu ihr. „Geplante Abfahrt ist 10 Uhr." Sie vergewisserte sich, wie viel Zeit ihr noch blieb und wandte sich dann wieder an Paddy. „Wir haben auf jeden Fall noch Zeit, um eine Kleinigkeit zu frühstücken." „Gut", antwortete Paddy, der mit dem Packen bereits fertig war und den Reißverschluss seines Gepäcks zuzog. „Ich gehe schon mal vor. Wir sehen uns dann unten?" Hannah nickte. Sie war nicht in der Lage etwas zu sagen, da sie noch sehr verschlafen war. Kaum hatte Hannah genickt, war Paddy auch schon aus dem Zimmer verschwunden. Immer noch schlaftrunken ließ Hannah ihren Blick durch das winzige Zimmer schweifen. Paddy hatte das Bett gemacht und ein wenig Trinkgeld auf dem Nachttisch, der auf seiner Seite des Bettes stand, gelegt. Das Zimmer sah aus, als ob niemand hier übernachtet hätte. Mit wenigen Schritten ging Hannah zum Fenster und zog die Gardienen auf. Die warme Morgensonne peitschte ihr ins Gesicht, so dass sie die Augen zukniff und sich nur durch Blinzeln an das grelle Licht gewöhnte. So stand sie eine Weile am Fenster und beobachtete das Getümmel auf der Straße, beobachtete, wie die ersten Menschen auf der Straße Obst und Gemüse einkauften und um den Preis feilschten, sah Kinder in Schuluniformen und Geschäftsmänner mit abgenutzten Aktentaschen. In Hannah stieg die Vorfreude auf das Wiedersehen mit Leon, Emil und ihrem Vater, aber auch mit Yeshi und Tulu. Ein warmes Gefühl machte sich in ihrem Magen breit, wodurch sich ihre Laune langsam besserte und die Mündigkeit schwinden ließ. Mit neuer Motivation für den Tag wollte sie sich für das Frühstück herrichten und blieb abrupt stehen, als sie ihr Notizbuch auf dem kleinen Schreibtisch vorfand. In Hannah machte sich leichte Panik breit. Sie war sich zu hundert Prozent sicher, dass sie ihr Notizbuch nicht auf den Schreibtisch gelegt hatte oder hatte sie es doch noch zur Seite gelegt, konnte sich nur nicht daran erinnern? Das Blut schoss ihr ins Gesicht. Hatte Paddy etwa ihre intimen Gedanken gelesen? Mit zittrigen Fingern schlug sie die letzten Seiten auf und spürte wie noch mehr Blut in ihr Gesicht strömte, als sie unter ihrem geschriebenen Monolog zwei Worte in einer ihr bekannten Schrift entdeckte: "Gern geschehen".

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