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‚Das kann doch echt nicht wahr sein', dachte sich Hannah. Es war bereits weit nach Mitternacht. Während alle schliefen, lag sie noch wach und fand nicht in den Schlaf. Genervt von sich selbst wickelte sie sich ihre Decke um ihren schlanken Körper und ging nach draußen. Die kalte Luft preschte ihr ins Gesicht. Der Wind wehte durch das Dorf und sanfter Regen prasselte auf den trockenen Boden. Hannah atmete die frische Luft ein und hoffte dadurch müder zu werden. Aus der Ferne hörte sie Tulus Ziegen blöken. An sich fand Hannah die leisen Geräusche in der Nacht mehr als beruhigend und auch der Nieselregen war mehr als angenehm. Seufzend setzte sie sich vor die Steinhütte und dachte nach; Sie war, seitdem sie in Äthiopien war, von Tag zu Tag besser drauf und auch irgendwie glücklicher gewesen. Erst als Maite ihr eröffnete, dass Paddy sein Leben lang im Kloster bleiben wollte, erreichte sie ihr persönliches Tief. Doch der mentale Abschied von Paddy tat ihr gut und als sie Leon kennen lernte, ging es stetig Berg auf. Sie war glücklich mit ihm und doch selbstständig geblieben. Jeder machte sein Ding auf seine eigene Weise. Dennoch war sie froh, ihn an ihrer Seite zu haben. Und plötzlich wie aus dem nichts, steht er, Paddy, wieder vor ihr und all das, was sie sich erarbeitet hatte, schien wieder zu bröckeln. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. War sie glücklich? Traurig? Wütend, weil Paddy ihr alles wieder zunichte machte? Enttäuscht, weil sie ihn nicht zum Flughafen begleiten konnte? Verwirrt? Sie bettete ihren Kopf auf ihre Arme und starrte in die Dunkelheit. Im Haus hinter ihr hörte sie leise Schritte, die sich näherten. Sie dachte an den Schritten Emil zu erkennen. „Emil, geh wieder ins Bett.", flüsterte sie, ohne sich zu bewegen. „Ich denke, Emil schläft tief und fest." Sie erstarrte als sie Paddys Stimme erkannte und drehte sich erschrocken um. „Kannst du auch nicht schlafen?", fragte er und lehnte sich in den Türrahmen. Wie selbstverständlich Paddy dort stand und auf sie hinunterschaute. Im Mondschein konnte Hannah seinen Mund erkennen, der sich zu einem Lächeln verformt hatte. „Nein, kann ich irgendwie nicht.", sagte Hannah und senkte ihren Blick. „Darf ich mich zu dir setzen?" Hannah atmete tief ein: „Klar." Still setzte sich Paddy zu ihr. Sie saßen schweigend nebeneinander, jeder den Blick auf einen Punkt in die Ferne gerichtet. Hin und wieder sah Hannah Paddy an und wenn er es bemerkte, lächelten sie sich beschämt zu. „Und warum kannst du nicht schlafen?", fragte Hannah, um die Stille zu brechen. „Du kennst mich. Ich war schon immer eine Nachteule." Paddy wusste, dass dieses Argument sehr schwach war, doch er war erleichtert als Hannah langsam nickte. „Und was bedrückt dich?" „Woher willst du wissen, dass mich überhaupt irgendetwas bedrückt?" Er prustete drauf los. „Wir haben uns zwar ziemlich lange nicht gesehen, aber deine Sorgenfalte auf der Stirn, hast du immer noch und die erkenne ich bestimmt unter vielen. Die verrät deine Gemütsstimmng, weißt du?" Hannah lächelte schräg. „Mich bedrückt einiges.", war das einzige, was sie sagte, ehe beide wieder schwiegen. „Kann ich dich etwas fragen?" Den Blick immer noch in die Ferne gerichtet, stellte Paddy Hannah diese Frage und auch ohne, dass er sie ansah, nahm er ihr Nicken wahr. „Warum hast du dich nie gemeldet?" Sie dachte lange über diese Frage nach. Ihr fiel partout kein Grund ein, der jetzt im Nachhinein im entferntesten Sinne plausibel war. „Ich weiß es nicht. Ich wollte einfach alles Verdrängen schätze ich und selbst mit allem klar kommen. Du hättest mich immer an alles erinnert." Zögernd stellte Hannah ihm dieselbe Frage. „Ich schätze, ich habe mich aus denselben Gründen nicht bei dir gemeldet wie du auch. Ich war selbst ein ziemliches Wrack, nicht nur wegen uns, sondern auch wegen diesem ganzen Erfolgsdruck. Ich wollte dich damals nicht auch noch damit reinziehen." In ihr schlugen all ihre Gedanken, Gefühle und sämtliche Emotionen Saltos, ehe sie all ihren Mut zusammennahm: „Denkst du ab und zu noch an ihn?" Paddys Blick wurde ernst. „Ständig. Anfangs habe ich versucht all das zu verdrängen. Später habe ich mich immer gefragt, was gewesen wäre, wenn alles anders gelaufen wäre und als ich mit alldem nicht mehr klar kam, habe ich mir Hilfe gesucht und meinen Frieden gefunden, habe viel gebetet und gelernt, dass es andere Wege gibt, um mit Dingen fertig zu werden. Ich habe gelernt darüber zu reden und damit klar zu kommen." Paddys Worte lösten Hannahs Zunge. „Ich habe das vermisst, all das. Mit dir zu reden, mit jemanden zu reden, der direkt davon betroffen war; meinen besten Freund, der mich am besten versteht." „Ach Hannah." Ohne sich zu generieren legte er einen Arm um sie und zog sie näher zu sich heran. Hannah unterdrückte ihre Tränen und ließ seine Nähe zu. „Ich habe dich auch vermisst, ehrlich.", flüsterte Paddy, „Und weißt du was? Ich bin auf irgendeine verrückte Weise auch froh, dass wir uns hier getroffen haben. Ist das nicht irgendwie Schicksal? Ich bin ehrlich. Ich wüsste nicht, wann ich mich überhaupt bei dir gemeldet hätte, zumal ich wusste, dass du es nicht wolltest. Ich hätte niemals den Mut aufgebracht. Also meinte es das Schicksal vielleicht doch gut mit uns auf irgendeine komische Weise?" Hannah lachte leise und lockerte die Stimmung ein wenig. „Vielleicht hast du in all den Jahren dafür gebetet? Genug Zeit hattest du ja." „So, kenn ich dich." Er drückte sie fester an seine Seite. „Ich hätte mich irgendwann bei dir gemeldet. Vielleicht nicht sofort, aber irgendwann bestimmt.", sagte Hannah nach einer Weile und dachte an ihren Abschiedsbrief, den sie vor einigen Monaten an Paddy verfasst hatte. „Meinst du, wir kriegen das hin, jetzt nach all der Zeit in Kontakt zu bleiben? Als Freunde?", fragte Paddy hoffnungsvoll. „Ich würde mich sehr darüber freuen. Schließlich bin ich auch tierisch neugierig, wie du dich da draußen in der richtigen Welt schlägst und was dir die Zukunft noch bereithält." „Und das wäre deiner Meinung nach?" Hannah zuckte mit den Schultern „Nichts bestimmtes. Vielleicht einfach ein Leben, dass du dir vorstellst? Eine erneute Musikkarriere oder ein Einsiedlerleben? Oder vielleicht doch ein spießiges Haus mit Frau und Familie?" Paddy lachte. „Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Weißt du, ein Mönch hat zu mir gesagt, ich solle mir eine Frau suchen und weiter Musik machen." „Das klingt doch nach einem logischen Vorschlag, findest du nicht?" Sie lehnte sich ein wenig zurück, um Paddys Gesicht zu sehen. „Eigentlich schon, aber so etwas möchte ich doch lieber selbst entscheiden." Wieder grinste Hannah schelmisch und sagte mit einer verschwörerischen Stimme: „Das Schicksal wird es dir schon zeigen." „Verhöhne nicht das Schicksal. Wer weiß, ob wir dann hier so sitzen würden."

Hannah und Paddy saßen noch die halbe Nacht im Regen und redeten sich vieles von der Seele. vor allem redeten sie über die Fehlgeburt und wie sie in all den Jahren damit umgingen. Dennoch behielten sie einige Sachen für sich. So ließ Paddy Hannah nicht wissen, dass er damals einen Selbstmordversuch vereitelte, ebenso wie Hannah nicht darüber sprach, welch wichtige Rolle Emil für ihre Psyche in ihrem Leben einnahm.

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