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„OK ich kann mir das nicht länger anschauen", sagte Sandra und versuchte Hannah von einer größeren Traube von Menschen wegzuziehen, um alleine mit ihr zu reden. „Hannah, ich kann kurz mit dir reden?" „Auf uns, auf heute Abend", säuselte Hannah gut gelaunt, leerte mit einem großen Schluck das Glas und wendete sich dann an Sandra. „Klar, was gibt es? Ist das Eis schon wieder leer?" Sandra schüttelte den Kopf und führte sie in eine abgelegene Sitzecke des Gartens. „Was ist passiert? Warum kommt Leon nicht?" Genervt von dieser Frage ließ sich Hannah auf einen Sitzsack fallen. „Das habe ich doch erzählt. Er hat den Flieger verpasst." „Und das war's?" „Natürlich. Da war nichts weiter." „Hat er dich angerufen oder wie?" Hannah prustete drauf los. „Anrufen? Nein, Leon doch nicht. Zugegeben, der Empfang in Äthiopien ist lausig. Wirklich, wirklich lausig. Er hat mir eine SMS geschrieben und wahrscheinlich auch eine E-Mail. Keine Ahnung. Als ich versucht habe, ihn anzurufen, war die Verbindung schlecht. Mehr als ‚schaffe es nicht und tut mir leid und alles Gute' habe ich nicht verstanden." Hannah fing an hysterisch zu kichern. „Der klang wie ein Roboter. Weißt du was ich meine? Wie ein Roboter..." „Hannah, vielleicht trinkst du lieber mal ein Glas Wasser, du hast ordentlich getankt." Sandra gab Hannah ein Glas mit Wasser in die Hand, das sie glücklicherweise annahm. „Keine Sorge, Sandra-Schätzchen, mir geht es gut. Mach dir keine Sorgen.", erwiderte Hannah, stand auf und ging wieder zu ihren Arbeitskollegen hinüber, während sie das Wasserglas beim Gehen auf einem Tisch abstellte und sich im Gegenzug eine Bierflasche nahm. Nach und nach verabschiedeten sich die ersten Gäste und auch Mareike ging auf Hannah zu und wollte sich von ihr verabschieden. „Danke, dass du mich eingeladen hast. Es war wirklich eine schöne Party.", bedankte sie sich bei der Gastgeberin. Hannah umarmte sie und nutzte die Gunst der Stunde, um auf die Toilette zu gehen. Leicht schwankend ging sie die Treppen hinauf und stand schließlich in ihrem Flur, als sich bei ihr alles drehte und ihr Magen heftig gegen den Alkohol rebellierte. Sie schaffte es gerade noch in die Küche, um sich mit lauten Würgen in die Spüle zu übergeben. Als ihr Magen komplett leer war sackte sie in sich zusammen. Ihr Kopf schmerzte jetzt schon und die Traurigkeit kam in ihr hoch. Sie schlug ihre Hände vor ihr Gesicht und weinte, nichtsahnend, dass sie nicht alleine war. Paddy, der von seinem Toilettengang wieder in den Garten gehen wollte, hörte aus der Küche ein leises Schluchzen und blieb im Türrahmen stehen, als er sah wie Hannah da stand. Eine ihrer Haarsträhnen hatte sich aus ihrer lockeren Hochsteckfrisur gelöst und hing ihr ins Gesicht, schwarz-gefärbte Tränen liefen ihr über die Wangen und zeichneten eine Straße auf beiden Seiten ihres Gesichts. Paddy wäre am liebsten stillschweigend gegangen, aber das Häufchen Elend, das er da sah, und sein Gewissen belehrten ihn eines Besseren. „Ist alles in Ordnung?", fragte er und ging einen Schritt in die Küche. Hannah hörte schlagartig auf zu weinen und starrte Paddy schockiert an. Sie spürte wie ihr die Schamesröte ins Gesicht stieg und drehte sich schnell weg, um nach der Küchenrolle zu greifen. „Klar alles bestens. Was willst du?", fragte sie barsch. In der Luft hing ein beißender Geruch. „Musstest du dich übergeben?" „Ich wüsste nicht was dich das angeht. Was machst du überhaupt hier?" Hannah nahm sich ein Glas und füllte es mit Wasser. Skeptisch sah Paddy Hannah an, als verstünde er ihre Frage nicht. In Hannah kochte es. „Ernsthaft, was willst du hier? Tauchst hier einfach ohne Einladung auf und machst auf heile Welt." „Du hast ganz schön viel getrunken, weißt du das? Was glaubst du, warum ich hier bin? Maike hat mich hierher mitgenommen. Das ist alles. Alles mal wieder ein beschissener Zufall." „Maike hat mich mitgenommen", äffte Hannah Paddy nach. „Schon klar. Schieb alles nur wieder auf diese verfickten Zufälle. Was zu Hölle willst du? Willst du mir eins auswischen, weil mein Leben endlich mal weiter geht und eine andere Wendung nimmt, als du es dir wünschst? Ihr Männer seht auch nie, wann es zu weit geht, oder? Entweder ihr verpasst einen Flug und speist es so ab, als ob es gar nicht so schlimm wäre oder ihr versaut komplett alles mit einem vermeintlichen Zufall." Die letzten Worte setzte Hannah mit einer Geste in Anführungszeichen. Paddy wollte Hannahs Hetzrede unterbrechen, doch sie fuhr ungeniert fort. „Es ist zwar nur ein Geburtstag, aber ich habe mich wirklich auf meine Feier gefreut und dann kommst du frommer Heuchler auch noch an und erwähnst einfach mal so vor deiner Freundin, meiner Arbeitskollegin, dass wir mal was hatten. Schön, dass es für dich so eine Kleinigkeit war und weißt du was? Für mich war das nie eine Kleinigkeit und ich würde das nie als so etwas titulieren." „Genau, so etwas zu verheimlichen ist natürlich der bessere Weg", sagte Paddy abwertend. „Oh du hast doch überhaupt keine Ahnung, was ich durchmachen musste und wie lange ich an allem zu knabbern hatte." „Denkst du, da bist du die einzige?" Paddy raufte sich die Haare. „Hannah, es dreht sich nicht immer alles um dich. Ich hatte genauso damit zu kämpfen wie du. Du weißt überhaupt nicht, wie ich gelitten und was ich für Qualen durchlebt habe. Du bist so eine Egoistin und stellst dich immer als die Leidtragende da. Aber weißt du was? Ich lasse mir von dir keine Schuldgefühle einreden, nur weil ich, im Gegensatz zu dir, endlich nach vorne blicken kann und das mit jemanden an meiner Seite, der mich glücklich macht." „Soll ich, wie du in ein Kloster flüchten, meine gesamte Vergangenheit und meine Gegenwart hinter mich lassen, mich von denen, die ich liebe abwenden und auf diese scheißen?" Hannah sah ihn mit angriffslustigen Augen an. „Du bist echt das letzte." Angewidert ging Paddy aus der Küche, drehte sich jedoch noch einmal zu Hannah um. „Ich hoffe, aus dir spricht nur der Alkohol. Weißt du, du hast dich komplett verändert. Ich kann verstehen, dass du enttäuscht, ja vielleicht sogar wütend bist, dass Leon nicht hier ist, aber lass deine Wut nicht an mir aus und schon gar nicht an Maike. Die kann wirklich am wenigsten dafür. Ich an deiner Stelle würde die Fehler mal bei dir selbst suchen und nicht bei anderen. Ich bin auch nicht perfekt und habe mit Sicherheit genauso viel falsch gemacht wie du, aber im Gegensatz zu dir bin ich wirklich mit mir im Reinen und habe für mich einen Weg gefunden weiter zu machen." Die Worte trafen Hannah tief ins Mark. „Fick dich einfach! Ich wünschte ich hätte dich niemals getroffen, nicht in Spanien, nicht in Deutschland und schon gar nicht in Äthiopien."

Ohne weiteren Worte ging Paddy durch den Flur und ging hinaus. Erst als er sich sicher war, dass Hannah ihm nicht folgte ließ er seine Maske fallen und kämpfte mit den Tränen. Er war wütend auf sie und wünschte, ihre Worte würden ihn kalt lassen. Doch ihre Vorwürfe trafen ihn tief. Paddy kannte Hannahs impulsive Ausbrüche nur zu gut aus ihrer Jugend. Er selbst war ein Hitzkopf und verlor oft die Fassung, doch so hat er Hannah noch nie erlebt und es zerriss ihm das Herz sie so zu sehen. Wie konnte sie nur annehmen, dass ihm ihre Beziehung, ihre Freundschaft und ihre Erfahrungen, die sie gemeinsam gemacht haben, gleichgültig wären? Das erste Mal seit langem fragte er sich wirklich, ob der Austritt aus dem Kloster wirklich der richtige Schritt gewesen war.

Immer noch zu tiefst getroffen trat Paddy hinaus in den Garten und schaute gen Himmel, atmete die kühle Luft ein und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Dabei bemerkte er nicht, dass Sandra mit ihm sprach. „Was sagst du?", fragte er als sich Sandra mit ihrer Hand vor seinem Gesicht bemerkbar machte. „Die anderen sind gerade am Gehen und wollten sich noch von Hannah verabschieden. Hast du sie gesehen?" „Ehm, ja. Vielleicht schaust du besser mal nach ihr. Ich glaube sie hat sich übergeben. Sie ist oben in ihrer Wohnung." „Oh. Na gut. Dann wird das wohl nichts mehr mit dem Verabschieden. Ich schaue sofort nach ihr. War schön dich wieder zusehen, Paddy." Sandra verabschiedete sich von Paddy, winkte den anderen ebenfalls zum Abschied und ging geradewegs zu Hannah.

„Ist alles in Ordnung?", fragte Mareike, als Paddy auf sie, Maite, Nora und Nicole zuging. „Du siehst blass aus." Paddy setzte eines seiner charmanten Lächeln auf. „Lange Geschichte und eigentlich nicht der Rede wert. Wollen wir dann auch so langsam?", fragte er in die Runde. Er bot den anderen an sie zu ihrem Hotel zu fahren, was alle dankend annahmen. Maite beobachtete ihren Bruder und nutzte die Möglichkeit sich bei ihm unterzuhaken, als Mareike mit den anderen sprach und wenige Schritte vor ihnen lief. „Ist wirklich alles ok? Du hattest schon lange nicht mehr diesen quälenden Blick, den du versuchst mit einem Lächeln zu überspielen." Paddy starrte in die Luft. Er atmete tief durch. „Es ist wirklich nicht der Rede wert."

Was wäre wenn?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt