37.| »Alevtina Jola«

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Der unsichtbare Zug kam quietschend zum Stehen und Sanguin erhob sich lustlos. Er sah zu, wie der blonde Mann seine Lederjacke überzog, sich dann eine schwarze Mütze auf den Kopf setzte „Dann mal los.” und den Waggon verließ. Sanguin trottet ihm stumm hinterher.
Als sie die Tarnkugel verließen, wehte ihnen eine frische Briese entgegen und in der Dunkelheit erkannte man lediglich die Umrisse großer und dicker Bäume.
Der Mann zog eine Taschenlampe aus irgendeiner Tasche an seiner Jacke hervor und schaltete sie ein, dann ging er auf den Wald zu, der sich vor ihnen abzeichnete.
„Warum sagst du mir nicht einfach, zu wem wir gehen?”, fragte Sanguin.
„Weil ich es nicht will.”, der Mann zuckte mit den Schultern und kickte einen Stein zur Seite.
Ein Seufzen - „Und warum nützt sie mir was?”
„Wirst du sehen und jetzt sei still.”
Der Matsch schmatzte unter ihren Schuhen und klitzekleine Regentropfen prasselten auf sie nieder. Irgendwo knackten die Äste unter dem Gewicht der Tiere, die dort rumkrochen, und die Blätter in den Baumkronen raschelten laut.
Nach zehn Minuten Marsch, bog der Mann an einer alten Eiche ab und schaltete die Lampe aus, steckte sie weg und ging quer Feld ein. Er trat das Gestrüpp nieder und ignorierte die Äste, die an ihm zerrten.
Sanguin hinter ihm, seufzte jedoch jedes Mal, wenn ihm ein Ast entgegen kam. Dann fluchte er, weil er fast stolperte und war wieder still.
Vor einer Höhle, die mit Holzlatten vernagelt war, bleiben sie stehen.
Sanguin wollte gerade zum Sprechen ansetzen, da hob der Mann seinen Finger an die Lippen. Dann zeigte er dem Augenlosen, dass er folgen sollte.
Sie quetschten sich durch eine schmale Ritze neben dem zugenagelten Höhleneingang und schlichen einen kleinen Tunnel in Kauerstellung entlang.
Am Ende des Tunnels kletterten sie eine alte Leiter hinauf und fanden sich kurz darauf zwischen brennenden Kerzen, hinter ein paar Kisten, wieder.
Sanguin fiel die Kinnlage fast herunter, als er eine nackte Frau mit blasser Haut in der Mitte des Höhlenraumes erblickte.
Sie lag, eingehüllt vom zarten Kerzenschein in einem aus Kreide gezeichneten Kreis. Die schlanken Arme lagen nach links und rechts ausgestreckt und das schwarze Haar wagte es nicht, den Kreis zu verlassen. Ihre Augenlider waren geschlossen und sie wirkte leblos, da sich ihr Brustkorb nur ganz leicht hob und senkte.
Sanguin kannte die Frau von Erzählungen und Malereien, jedoch war sie in echt eintausend mal schöner.
Alevtina Jola
Er starrte sie unverwandt an und konnte nicht mehr über die Erzählungen nachdenken, die er im Laufe der Jahre gehört hatte, da ein Schrei ihrer Kehle entwich.
Ihre Hände ballten sich zu Fäusten, das schöne Gesicht verzog sich und ihr Oberkörper bäumte sich auf. Sie zog die langen Beine etwas an und schmiss den Kopf auf die linke Seite. Sie wand sich, als hätte sie Schmerzen.
„Was passiert gerade?”
„Schht”
Alevtina gab ein Stöhnen von sich, verzog das Gesicht nochmal und setzte sich dann langsam auf. Sie streckte den Rücken durch, hob das Kinn an. Farbe kehrte in ihr blasses Gesicht, welches von ihren Haaren wundervoll eingerahmt wurde, zurück. Sie öffnete die Fäuste und saß regungslos dort. Ihre Augen ließ sie geschlossen. Blind stand sie auf und taumelte kurz, jedoch nicht ohne selbst dabei eine unverwechselbare Eleganz auszustrahlen.
Alevtina zog einen Mantel aus weißen Leinen an und band die Stränge zusammen. Währenddessen verschwand der Kreis, in dem sie gelegen hatte. Die Kreide verblasste einfach und war dann nicht mehr zu sehen.
„Liebend gern würd' mein innerstes Aug' euch erkenn', so wie mein Ohr euch atm'n hört und mein Näschen euch riecht.”, sprach sie.
Der Blonde Mann neben Sanguin richtete sich auf und stieg über eine Kiste hinweg, trat in den Kerzenschein.
Die Flammen der Kerzen flackerten plötzlich hektisch.
Erst jetzt öffnete sie die Lider. Die Linke Augenhöhle war gefüllt mit einer Prothese, die keiner normalen glich. Sie strahlte türkis und zeigte ein umgedrehtes Kreuz, um das Kreuz herum zeichnete sich eine Sonne ab. Das andere Auge war himmlisch blau, wechselte aber von einer Sekunde auf die andere in ein dunkles Lila. „Welch Verräter erblickt mein Aug' vor mir?”
Er setzte sein hübschestes Lächeln auf.
„Mein mir liebster Verräter!”, die Mundwinkel ihrer roten Lippen zogen sich hoch „Mein mir liebster Besucher!” und sie klatschte in die Hände. „Mein mir liebster und einziger Dexter Vex!”
Er trat dichter an sie heran und ergriff ihre linke Hand, küsste ihren Handrücken.
„Gibst mir erneut die Sünde des Pilgers und hast nicht einmal daran gedacht, die letzte von meinen Lippen zurück zu deinen zu holen.”, Alevtina zog die Hand zurück, „Spiel' wie Romeo und hol' sie dir zurück, Liebster.”
Vex begann zu grinsen. „Huh, die Sünde von deinen Lippen nehmen? Verlockend.”
„Nicht verlockend genug? Dein Freund kann es genauso gut tun, Liebster ... Trete hevor, Mann. Komm in den Kerzenschein, damit mein Aug' dich erblicken kann.”
Sanguin zögerte, richtete sich auf und verzog kurz das Gesicht, als der Schmerz ihn durchfuhr. Dann ging er steifbeinig auf die beiden zu.
„Sag, wer bist du, du augenloser Blondschopf.”
Er räusperte sich, zögerte kurz. „Willam Raymond Sanguin.”
„Für gewöhnlich ist er nicht so schüchtern.”, Vex klang amüsiert.
Alevtina nickte Sanguin zu und wandte sich wieder um. „Dein Freund hat Schmerzen - Deswegen seid ihr zu mir gekommen, nicht wahr?”
„Ich würde ihn nicht als meinen Freund bezeichnen ... Dennoch magst du recht haben.”
Alevtina drehte ihnen den Rücken zu und ging zu einem Holztsich, auf dem eine Elfenbein-Schatulle, die aufwendig verschnörkelt war, stand. Sie öffnete diese in wenigen Handgriffen und besah kurz den Inhalt.
Als sie sich wieder zu ihnen wandte, hielt sie ein Messer in der Hand. Eine goldene vierzehn Zentimeter lange Klinge ragte aus dem weißen Mamor hervor, welches sie sanft umschlossen hielt.
Sanguin wollte automatisch einen Schritt zurück weichen, hörte hinter sich aber ein Frauchen und rührte sich nicht von der Stelle.
„Oh, verzeiht ... Karub, mein Engel, komm' zu Mama.”, Alevtina begann zu lächeln und Sanguin war der Meinung noch nie etwas Schöneres gesehen zu haben - sogar den Gedanken an China Sorrows' Schönheit verlor er.
Ein Tier schritt anmutig durch den Raum. Es war tief schwarz, schwarzer als Schwarz. Es konnte mit den dunklen Ecken der Höhle verschmelzen, es musste es nur wollen.
Es trat zu Alevtina und ließ sich von der rechten, behandschuhten Hand kraulen.
Das Tier war ein Puma, dessen Augen so grün leuchteten, wie die Polarlichter in einer klaren Nacht.
Alevtina ließ von dem Puma ab und richtete sich wieder auf, dann ging sie in die Mitte, in der sie vor einigen Minuten noch selber lag. Dort legte sie das Messer ab und zog sich in flüssigen Bewegungen den weißen Handschuh von der Hand.
Sanguin schluckte schwer, denn er erblickte die strahlend weißen Knochen, die ihre Hand bildeten. In diese waren kleine Symbole geritzt, die man von Weitem nicht erkennen konnte.
Alevtina schmiss den Handschuh hinter sich und legte die Zeige- und Mittelfingerknochen auf den Boden, dann begann sie einen Kreis um das Messer zu ziehen. Dabei hinterließen die Knochen weiße Striche. Dem Kreis folgten zwei ineinander verlaufende Dreiecke und eine kleine Sonne.
Danach hob sie das Messer auf und drehte es langsam in der Knochenhand. Der Mamor griff leuchtete für wenige Sekunden auf.
„Liebster, du solltest zurücktreten ... William Raymond, komm' zu mir und leg' dich in den Kreis, Freund eines Freundes.”
Sie kamen ihren Anweisungen stumm nach.
„Halt den augenlosen Blick starr zur Decke.”, sie öffnete sie Stränge ihres Mantels und ließ ihn zu Boden gleiten.
„Doch sollt' die Gier dich verführen, dich eines and'ren Anblick's zu ergötzen, blutest du bis in alle Ewigkeit mit heiligem Schmerze.”, Alevtina ließ sich auf die Knie sinken und legte die Klinge Hand an seinen Kopf.
Ihre Stimme hypnosierte ihn und er bemerkte nicht, wie der Kreis begann, sich ein paar Zentimeter abzusenken.
Dexter Vex hatte auf einer der vielen Kisten Platz genommen und vergrub die Hände in der Lederjacke, sah stumm zu.
Alevtina legte die Klinge an seinen Hals und drückte sie kräftig in seine Haut. Zog sie wieder hinaus und beobachtete, wie das warme Blut aus der Halsschlagader floss. Sie legte das Messer neben sich nieder und zeichnete sich mit seinem Blut, von der Stirn ausgehend bis hin zur Nasenspitze, einen Strich. Ihre roten Lippen beschmierte sie ebenfalls mit seinem Blut.
Sie ließ ihn unaufhaltsam ausbluten und blasser werden.
Die schöne Frau legte ihre Knochenhand auf Sanguins Brustkorb und schloss ihre Augenlider. Wie ein Mantra murmelte sie etwas - für Vex Unverständliches - vor sich hin.
Das noch warme Blut bildete eine Kuppel um sie herum und stürzte kurz darauf wie ein Wasserfall auf die beiden nieder.
Alevtina zog ihre Hände zurück und richtete sich auf, trat aus dem Kreis heraus. Sie sah auf ihn nieder und ballte ihre Hände zu Fäusten.
Nebel zog aus dem Nichts auf und hüllte ihn ein. Keine Sekunde später hörte man gedämpfte Schreie.
Sie wandte sich zu Dexter Vex. „So gern ich mich mit Blut and'rer besudeln lass', so gern tret' ich unter die Dusche.”
Er nickte und sie wollte sich in Bewegung setzen, da hielt er sie nochmal auf. „Alevtina.”
„Ja, Liebster?”
„Dein Geschwafel amüsiert mich ja sehr, aber du kannst aufhören so geschwollen - oder wie auch immer du es nennst - zu reden.”
Sie begann zu grinsen.

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Dam dam dammmm
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Eure leni

Der Ring des DrachensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt