48.|»Ut te fortuna concidit et proditor«

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Um sie herum war es düster, denn die Wolkenwand verdeckte den blauen Himmel wie eine Schicht aus Schimmel einen vergammelten Joghurt.
Dicke Regenstropfen peitschten auf Malias Körper nieder. Der eisige Wind donnert durch die Baumkronen, trieb ihr die Tränen in die Augen und zerzauste ihr das silberne Haar. Ihre Hände spürte sie kaum noch und es war anstrengend für sie, sich immer wieder das Wasser aus dem Gesicht zu wischen.
Ihre Füße schmerzten in den schweren Stiefeln und sie war sich ziemlich sicher, dass die Flüssigkeit, die sich um ihre Zehen herum ausbreitete, kein Schweiß war, sondern Blut.
Malia atmete schwer - kleine weiße Wölkchen wurden sofort vom stürmischen Wind weggetragen - und stolperte beinahe wieder über eine Wurzel, die aus dem Boden ragte.
Gerade so hielt sie sich auf den Beinen, da riss der nächste Busch ihr die Hosenbeine endgültig vom Leib. Die scharfen Dornen des übergroßen, verwelkenden Rosenbusches schnitten ihr tief in die Unterschenkel.
Malia schrie auf und riss den Kopf herunter.
Sie spürte, wie ihr Blut an ihrer kalten Haut hinunter floss. Trotz des Ekels, den sie empfand, genoss sie das warme Gefühl, dass sich auf ihren Beinen ausbreitete.
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Sie war zart und warm und lag doch so schwer wie zehn Strohballen auf ihren Knochen.
Die Gänsehaut auf ihrem Körper wurde stärker.
Ihr Herz begann wie wild zu pochen und sie hielt den Atem an.
„Malia.", ihre liebliche Stimme schaffte es, das Rauschen des Windes zu übertönen und überraschend klar an ihre Ohren zu dringen.
Malias Herz setzte einen Schlag lang aus.
„Mein Kind?", die zarten Finger strichen über ihre Schulter.
Inzwischen pochte es stark in ihrer Brust - sie befürchtete, dass ihre Rippen bald nachgeben und brechen würden.
„Komm, wir müssen weiter.", die Finger verschwanden von ihrer Schulter und hinterließen eine frierende Stelle, kurz darauf spürte sie die Hand auf ihrem Rücken.
Hitze stieg in ihr hinauf und ein dicker Kloß bildete sich in ihrem Hals.
Sie hoffte, dass ihre gebrochenen Rippen ihr den Brustkorb aufhebeln würden und ihr Herz sich somit hinaus katapultieren konnte.
„Wir sind gleich da, nur noch ein paar Minuten.", hauchte diese wunderbare Stimme.
Malia hob langsam ihren zitternden Arm und fuhr sich mit der steifen Hand über das eiskalte Gesicht. Der Druck auf ihrem Rücken trieb sie voran, ließ sie aus dem Dornenbusch heraus treten und verscheuchte ihre Schmerzen.
Wie in Trance druchquerte sie das Dickicht, stolperte immer wieder über Wurzeln, riss sich weitere Wunden in das Fleisch, doch sagte nicht ein Wort, dachte nicht einen Gedanken. 
Sie hörte ihren schnellen Herzschlag von weit her, es kitzelte sie in den Ohren.
Die Hand verließ nicht einmal ihren Rücken.
Gott, fühlte es sich gut an!
Je weiter sie nach Norden gingen, desto mehr veränderte sich die Umbegung. Der Wald wurde immer dichter und der Regen ließ nach, hörte sogar für einige Minuten auf - Dann brach ein Schneesturm los.
Golfball große Schneeflocken segelten auf sie nieder, der Wind glich einer Peitsche, die mit Kälte um sich schlug und jedem schreckliche Striemen verpasste.
Malia ließ sich weiter führen, hindurch durch den Schneemantel, der sich in Sekundenschnelle begildet hatte und ihr nun bis zu den Knien reichte.
Sie machte sich nicht mehr die Mühe ihr Gesicht und somit auch ihre Augen von dem Schnee zu befreien; vertraute einzig und allein auf die Hand auf ihrem Rücken.
Zehn Minuten später, reichte der Schnee ihr schon bis zur Hüfte, doch sie marschierte weiter.
Ja, diese Hand bewegte Wunder.
„Wunderbar.", zirzte die Stimme.
Malias Gesicht verzog sich zu zu einem steifen Lächeln.
Vor ihnen erstreckte sich ein riesiges Schloss.
Von Weitem glich es einer Ruine.
Das Schloss - flankiert von zwei unglaublichen Türmen - schien sich in unendliche Höhen empor zu ragen. Es durchbrach die Wolkendecke und gab die wahre Größe nicht Preis.
Auf jedem Vorsprung prangerten riesige Wasserspeier aus purem Gold. Sie saßen auf Nesten, die, beim genaueren Hinsehen, nicht aus Stöckern bestanden, sondern aus bronzefarbenen Schnörkelein.
Über den goldenen Wasserspeiern befanden sich riesige Fenster mit schwarz-graunen Glasscheiben, in denen sich beige Schatten hin und her bewegten.
Ob sich weitere Schnörkelein an den Außenwänden befanden, blieb ungewissen, denn giftgrünes Efeu hatte das ganze Bauwerk überfuchert, lediglich die Wasserspeier und Fenster blieben verschont.
Vor dem Schloss ragte ein Tor aus dem Boden hervor.
Auch dieses war überflutet mit Efeu, nur goldene Lettern waren zu erkennen.
„UT TE FORTUNA CONCIDIT ET PRODITOR"
Von ihm ausgehend zog sich ein unsichtbares Schild über das Schloss.
Sie traten weiter auf das Tor zu und als sie auf eine zweimeter breite, graue Platte traten, versanken die Mamorstäbe, die bis vor wenigen Sekunden den Weg auf das Schlossgelände verwehrt hatten, im Boden.
„Ut te fortuna concidit et proditor.", trällerte es neben Malia.
Sie setzten sich in Bewegung und in dem Moment, in dem sie unter dem Bogen des Tores standen, stürzte ein Schwall schwarzes Pechs auf sie nieder. Kurz bevor es sie berührte, spritzte es in alle Richtungen hinweg.
„Na, ein Glück.", lachte die Stimme.
Die Mamorstäbe schossen aus dem Boden hervor und sie waren gefangen auf den Schlossgelände.
Sie gingen weiter, stiegen die fünfunddreißig Treppenstufen aus schwarzem Erz hinauf und betraten das Innere durch die gewaltige Birkentür, die von alleine aufschwang.
Hinter ihnen fiel die Tür wieder ins Schloss, aufeinmal verstummte das Geplappere.
Sie standen in der Eingangshalle.
Der Boden erinnerte an ein Schachbrett mit seinen ein Quadratmeter großen, weißen und schwarzen Mamorplatten.
Rote Sessel standen zu ihrer linken, auf ihnen lümmelten junge Frauen, die ein komisches Kneul hin und her warfen. Daneben ein Mann - ihm fehlte der Kopf, doch anscheind beobachtete er die Gruppe.
Zu ihrer rechten stand ein älter Herr, der ziemlich blass um die Nase war. Sein schütteres Haar war nach hinten gekämmt, sein Smoking schmeichelte ihm, schummelte ihn ein paar Kilo dünner als er eigentlich war. Seine behandschuhten Hände waren vor seinem Bauch verschränkt und er starrte ins Leere, als sähe er sich einen Film an.
Vor ihnen befand sich eine große rote Treppe, die sich allmählich in die unterschiedlichsten Richtungen aufteilte.
Die Hand verließ ihren Rücken.
Malia zuckte zusammen, das Pochen ihres Herzens hörte sie nun unangenehm deutlich.
Ihr Gesicht schmerzte.
Ihre Brust schmerzte.
Ihre Hände schmerzten.
Ihre Beine schmerzten.
Ihre Füße schmerzten.
Ihr ganzer Körper schmerzte!
Sie sackte in sich zusammen, hockte auf allen Vieren, blickte sich ruckartig um, doch sah alles nur durch einen dicken Tränenschleier.
Sie fror so sehr, obwohl es im Schloss warm war.
Ihre Glieder zuckten, sie schnappte nach Luft.
Schluchzte.
Ihre Atemwege und Lungenflügel brannten.
Ihr Gesicht war wie gelähmt.
Malia schluchzte abermals.
Dann blinzelte sie angestrengt.
Langsam klarte ihre Sicht auf, endlich konnte sie die Eingangshalle auch erblicken.
Kurz starrte sie vor sich hin, bevor sie zögernd den Blick umwandte.
Sie sah lange Beine, einen flachen Bauch, lange Arme, wohl geformte Brüste, schwarze Haare und schlussendlich das wunderschöne Gesicht.
Alevtina Jola.
Die wunderschönste Frau, die sie je gesehen hatte. Ja, wahrlich, sie war schöner als jede Malerei oder Erzählung. Schöner als China Sorrows, die Großmagierin Irlands, es je hätte sein können.
Bitte sieh mich nicht an., dachte das Mädchen.
Sie sah so wunderschön aus, nicht einmal der Marsch durch das Dickicht und den Schneesturm hatte ihr Aussehen verändert.
Und Malia?
Malia hockte auf allen Vieren wie ein Häufchen Elend dort auf dem Boden und blinzelte sie an.
Alevtina drehte den Kopf und sah zu ihr herunter, erwiderte ihren Blick. Und Tatsache, ihre wunderbaren roten Lippen verzogen sich und formten ein bezauberndes Lächeln.
Malias Herz explodierte förmlich.
Ja, ihre Rippen würden bestimmt jeden Augenblick brechen und ihr durch den Brustkorb stechen.
Alevtina regte sich einen Moment nicht, dann ging sie elegant in die Hocke.
Sie ließ sich doch tatsächlich auf Malias Augenhöhe nieder.
Unglaublich!
Ihre Hände umfassen ihr eiskaltes Gesicht.
„Gleich wird es besser, mein Kind.", hauchte sie.
Malia spürte, wie eine Hand sich um ihr Gehirn legte und die rechte Gehirnhälfte sanft mit dem Daumen streichelte.
Augenblicklich verebbte das Herzrasen und ihre Augenlider wurden unglaublich schwer.
„Mr Delöl."
Schwere Schritte hallten von den Wänden nieder.
Kurz darauf tauchten zwei blankpolierte Lackschuhe neben Alevtina auf.
Malia riss die Augen mühsam auf und erhaschte einen Blick auf den Battler mit dem schütteren Haar.
„Kümmern Sie sich doch bitte um sie.", verlangte Alevtina.
Was danach gesagt wurde, hörte sie nicht mehr, denn alles um sie herum war schwarz geworden.
Sie schlief.

Der Ring des DrachensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt