39.| »Gestört«

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'Mit geschlossenen Augen zog Hope die Decke höher. Sie und Tanith hatten ein Zimmer auf der Krankenstation bekommen.
Vielleicht, weil man sie so besser überwachen konnte. Ja, Hope war nicht entgangen, dass China Sorrows ihr gegenüber anders war. Doch von so gut wie jeden, dem sie hier begegnete, wurde sie misstrauisch gemustert. Sie scherte sich nicht darum, das versuchte sie zumindestens.
Tanith verließ das Zimmer schon vor zwei Stunden, aber auch dazu sagte Hope nichts. Wahrscheinlich war die Blondine zu Grässlich gegangen.
Jeder Blinde sah, dass die beiden etwas für einander empfanden.
Hope drehte sich auf die andere Seite und war wieder dabei sich zum Schlafen zu zwingen.
Es klappte jedoch nicht.
So ging es nun schon seit Stunden - drehen, Augenlider aufeinanderpressen, sich sagen, dass man schlafen will, wieder drehen.
„Hope.”, flüsterte Severin. Dabei klapperten seine Kiefer leicht. „Hoppppeeee.”
„Ja?”, sie flüsterte ebenfalls.
„Ich will auch ins Bett.”, berichtete er, „Sooo lange war ich nicht mehr zugedeckt von einer richtigen Decke und gebettet auf ein weiches Kopfkissen.”
Sie drehte sich abermals.
„Ich schmolle gerade übrigens.”
Hopes Hand tastete über den Beistelltisch und fand schlussendlich den Schädel. Sie ergriff ihn und hob ihn hoch, legte ihn neben sich auf das Kopfkissen.
„Wenn du die Augen geöffnet hättest, wäre es schneller gegangen.”
„Wenn ich nicht so wäre, wie ich bin, stündest du immer noch auf dem unbequemen Tisch. Also halt die Klappe oder bedank dich, Severin.”, sie ließ die Schädeldecke los und legte die Hand unbewusst an den Wangenknochen, umarmte ihn halb.
Ein komisches Geräusch verließ seine nicht vorhandene Kehle, dann „Danki.”
„Mh.”
„Du bist traurig.”, meinte er plötzlich.
Wieso sollte sie es leugnen? „Ja.”
„Und du hast Angst.”
„Ja.”
„Schreckliche Angst.”
„Du hast recht.”, Hope legte ihre Stirn an den Schädel. „Du hast recht.”
„Und wieso bist du dann hier?”
„Weil ... Ich ... Ich denke, ich will den Mord an Mike aufklären.”
„Obwohl du Angst hast.”
„Obwohl ich Angst habe.”
Severin schwieg ganz kurz. „Du könntest das alles hier aufgeben. Zurück in deine Heimat gehen. Dein Elternhaus renovieren. Deine Brüder treffen. Dein neues altes Leben leben.”
Sie presste die Augenlider noch fester zusammen. „Das könnte ich, ja.”
„Warum tust du es dann nicht?”
Hope schwieg.
„Antwort?”
„Weil ... meine Freunde hier sind.”
„Tanith und Grässlich oder Skulduggery? Nein, das sind nicht deine Freunde. Das sind nicht deine Freunde, sondern die deiner toten Mutter.”
Hope ließ ihn los, saß kerzengerade im Bett und öffnete ihre Augen. „Ich rede von Jane. Von Cho, Van Pelt und Rigsby.”
„Von denen du dich bei deinem Abgang nicht verabschiedet hast. Naja, ganz stimmt es ja nicht. Von Jane hast du dich ja verabschiedet, aber er ist auch was Besonderes. Ich kann's dir nicht verübeln.”
Sie riss den Kopf herum und starrte den Schädel an.
„Anscheind hast du noch nicht realisiert, dass du dich wieder mit dem Tod umgibst, Hope ... Oder sollte ich wieder Teresa sagen?”
Sie krallte sich in der Bettdecke fest, doch das hatte sie. Sie hatte es realisiert!
„Mike ist tot. Skulduggery ist ein Skelett, was bedeutet, dass er eigentlich tot ist. Ich bin eigentlich auch tot; sieh mich doch an, ich bin ein Schädel!”, seine Zähne klapperten immer lauter. „Du weißt ja gar nicht, wie viele hier gestorben sind. Hier im Sanktuarium, hier in Roarhaven. Wahrscheinlich ist hier auch einer im Bett krepidert!”
Hope riss die Decke zurück und schwang ihre Beine aus dem Bett. Als sie aufstand verlor sie jedoch ihr Gleichgewicht und landete auf dem kalten Boden.
„Merkst du was? Du kannst vor dem Tod nicht weglaufen. Er ist etwas unausweichliches. Für jeden von uns.”
Ihr fiel das Atmen immer schwerer und sie rappelte sich mühsam auf. Sie taumelte zur Tür, öffnete sie hektisch und stolperte auf den beleuchteten Flur.
„Vor dem Tod kann man nicht weglaufen! Besonders du kannst es nicht!”, rief Severin ihr hinterher, bevor die Tür zuknallte.
Schwer atmend, stützte sie sich mit beiden Händen an der weißen Wand ab. Ihren Kopf hielt sie gesenkt und die Haare fielen ihr ins Gesicht.
Was zur Hölle war aufeinmal mit diesem Schädel los? Woher wusste er von ihrem Entschluss zu gehen. Von der Tatsache, dass sie sich mit dem Tod anderer nicht mehr beschäftigen wollte.
Wieso machte er ihr noch mehr Angst? Wieso erzählte er ihr, dass der Tod besonders unausweichlich für sie war? Wieso?
Hope drehte sich um und rutschte an der Wand hinunter. Wie sehr wollte sie das hier wirklich? Wollte sie überhaupt erfahren, wer Mike tötete?
Plötzlich hörte man einen Schrei.
Der Schädel krachte durch die Tür und hinterließ ein Loch im Holz.
Ihre Augen weiteten sich und sie kam auf die Füße, lief, ohne groß nachzudenken, los.
„Du kannst davor nicht weglaufen!"
Sie hörte neben ihrem Ein- und Ausatmen, ihren schnellen Herzschlag.
„Du kannst es nicht, verstehst du das denn nicht!?"
Hope stolperte, rollte für einen Moment über den Boden und blieb auf dem Rücken liegen. Sie hob den Kopf ein wenig und sah, wie Severin unaufhaltsam auf sie zuflog.
Er leuchtete unsagbar grell.
Als er seinen Mund öffnete und das leuchten heller wurde, entwich ihr ein Schrei und ein Blitz flammte aus ihrer Hand hervor. Traf ihn und ließ ihn in Einzelteile zerfallen.
Gelähmt starrte sie den Knochenhaufen an. Regte sich nicht einmal, als die grau gekleideten Sensenträger, die ihr ein Gefühl des Unwohlseins bescherten, mit leichten Schritten auf den Flur traten.'

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Hello, gleich kommt noch ein Kapitel, hehe.

Der Ring des DrachensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt