47.| »Sie könnte bei jeder Kleinigkeit explodieren«

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Alles um sie herum war schwarz, so als hätte jemand plötzlich alle Lichter gelöscht.
Ihre Augen gewöhnten sich nicht daran; sie blieb weiterhin im Dunkeln, nicht einmal ihre eigene Hand konnte sie erkennen.
Langsam verdünnte sich die Dunkelheit und schubste sie in riesige, graue Nebelschwaden.
Eisige Kälte stieg in ihr hinauf, bescherte ihre eine Gänsehaut. Es rüttelte sie durch: Ihre Augen kugelten unaufhaltsam in den Höhlen hin und her, glichen dabei glitschigen Murmeln und ihre Zähne klapperten aufeinander, als leide sie an Schüttelfrost.
Ihre Gliedmaßen fühlten sich ungewöhnlich steif an, die Finger und Zehe erfroren zu Tannenzapfen.
Die Nebelschwaden bauschten sich auf, nahmen ungeheuere Größen an und stiegen hoch hinauf.
Grau verschwamm zu blau.
Es grollte ohrenbetäubend und ließ sie bis aufs Mark erschüttern.
Dicke lilafarbende Tropfen lösten sich aus den Schwaden. Erbarmungslos peitschten sie auf ihren Körper nieder.
Die lilane Flüsslichkeit durchnässte sie gänzlich, ließ sie noch mehr frieren und sammelte sich nun um sie herum. Allmählich begann sie darin zu schwimmen, in abgehackten Bewegungen paddelte sie hilflos hin und her.
Ein greller Lichtstrahl schlug auf das farbige Wasser ein, es wurde kochend heiß.
Ein langer Schmerzensschrei ertönte.
Lila wurde zu rot.
Alles begann sich zu drehen.
Unter ihrem Körper spürte sie plötzlich einen Sog. Es riss ihr die Stiefel und die Socken von den Füßen.
Wieder dieser Schrei.
Und als die rote Flüssigkeit unaufhaltsam in ihren Mund drang, ihr die Zunge und ihr Inneres verbrühte, wurde ihr klar, zu wem die Schreie gehörten.
Sie presste ihre Hände auf ihren Mund, während sie in der kochenden Suppe, weiter in den Sog gerissen wurde.
Ihre Schreie verstummten.
Sie rutschte durch eine Röhre und befand sich schlagartig im freien Fall.
Lange hielt es nicht an, denn kurz darauf knallte sie auf hartem Untergrund auf.
Wimmernd begann sie zu husten. Das Rot spritzte zwischen ihren Fingern hervor, ehe sie sich an den Hals packte und nach Luft schnappte.
Ihr ganzer Körper schmerzte, Ihre Haut begann sich abzupellen aufgrund der Verbrennungen.
An ihre Ohren drang ein Röcheln - es war ganz dicht, sie meinte sogar einen Atmen zu spüren.
Die Augen zu öffnen, wagte sie nicht.
Das Röcheln nahm zu, bis es zu einem abgewürgten Husten wurde.
Spindeldürre Finger strichen durch ihr nasses Haar und krallten sich dort fest.
Das Husten verschwand für einen Moment.
Die Finger zogen an ihrem Schopf.
Ein spöttisches Lachen.
Es war ihr so bekannt.
Dieses Lachen, das sonst so liebevoll war.
Diese dürren Finger.
Stöhnend hob sie ihren Arm, berührte ihr knallrotes Gesicht, tastete dann nach der Hand in ihrem Haar.
Ihre zitternden Hände umfassten kalte Knochen.
Ehe sie sie zurückziehen konnte, vergruben sich zwei Reihen voller gerader Zähne in ihrem Handrücken.
Sie wollte einen Schrei lassen, doch mehr als ein Wimmer entwich ihrer Kehle nicht.
Sie sprang auf.
Ein ganzes Haarbüschel war ihr herausgerissen worden und auf ihrem Handrücken klaffte eine pochende Wunde.
Sie lief los - die Augenlider fest aufeinander gepresst.
Der Boden unter ihr wurde immer unebener. Kacheln wurden zu Sand; Sand zu Kies und Kies zu Glas.
Grüne Scherben versenkten sich in ihren Füßen.
Wieder entwich ihr nicht mehr als ein Wimmern.
Hinter ihr ertönte abermals das spöttische Lachen, dieses Mal lauter als zuvor.
Es erfüllte ihren ganzen Kopf.
Ihr ganzes Inneres.
Ihr Körper bebte.
Ein harter Schlag in den Rücken.
Sie verlor das Gleichgewicht, knallte vorne über auf den Scherbenboden.
Das Glas durchschnitt ihre Klamotten und lädierte ihre verbrühte Haut.
Schritte näherten sich ihr.
Jemand beugte sich über sie.
„Mach die Augen auf."
Seine Knochenfinger fuhren über ihre Kehle und sie schnappte panisch nach Luft.
„Du sollst die Augen aufmachen.", donnerte seine Stimme. Seine Finger glitten über ihr Schüttelbein hinüber zu ihrer Schulter.
Sie presste die Lider noch fester zusammen.
Er stützte sich auf ihrer Schulter ab und setzte sich rittlings auf ihren Bauch.
Die Scherben bohrten sich tiefer in ihr Fleisch.
„Runter.", krächzte sie kaum hörbar.
Seine Hände packten ihre Handgelenke, und drückten sie über ihrem Kopf auf den Boden.
Er atmete zwar nicht, trotzdem wusste sie, dass er ihrem Gesicht ganz nah sein musste.
„Ich würde dir gerne in die Augen sehen, wenn ich dich umbringe." Sie spürte, wie er ihre Gelenke inzwischen nur noch mit einer Hand fixierte und die andere wieder an ihre Kehle legte. Sein Daumen streichelte ihren Hals. „Schlag mir diesen Wunsch doch nicht ab.", flüsterte er, „Ich bitte dich." Seine kalte Stirn berührte ihre für einen Moment.
Sie begann zu schluchzen.
„Komm schon."
„Ne -"
Er verstärkte den Griff um ihre Kehle.
„Sieh mich an. Komm schon."
Ihr Körper bebte.
„Tu es, öffne sie."
Sie japste auf, als sie einatmete.
„Bitte.", hauchte er.
Sie presste die Lippen aufeinander und langsam flatterten ihre Augenlider auf.
Sie brauchte einen Moment, bis ihre Sicht klar wurde und sie ihn erblickte.
Von Kopf bis Fuß besudelt mit Blut und aufgeklappten Kiefern, hockte er über ihr. In seinen leeren Augenhöhlen ringelten sich wilde Schatten und den Schädel hatte er etwas schiefgelegt.
„Damit machst du mir eine Freude.", sagte er.
Sie öffnete den Mund, doch ihr entwich kein Ton, denn seine Finger bohrten sich in ihren Hals.
Er würgte sie.
Sie fing an zu zappeln, doch nichts half.
Mit jeder weiteren Sekunde, in der er ihr die Luftröhre abschnürte, verpuffte der Wille, sich selber zu befreien.
Der blutige Schädel näherte sich wieder ihrem Gesicht. Er lachte.
Ihre Augenlider fühlten sich so schwer an wie Blei und sie brabbelte etwas vor sich her.
Sein Lachen dröhnte regelrecht in ihren Ohren.
Es schmerzte gar.
Vor ihren Augen wurde es weiß, in ihrem Nacken kratzte es, gleich war es so weit.
„Skulduggery.", das letzte bisschen Luft entfleuchte ihrem Körper.
Das weiße Licht explodierte hinter ihrer Stirn.
Es schleuderte sie hoch.
Sie fiel.
Schlug auf.
Und riss die Augen.
Das grelle Licht der Röhrenlampen blendete Walküre heftig. Sie brauchte ein paar Minuten, bis sie sich daran gewöhnt hatte. Ihr Körper schmerzte, besonders die Hand- und Fußgelenke, ihr Mund war papptrocken und der Schweiß war ihr aus allen Poren gekommen und hatte ihre Anziehsachen durchnässt. Diese klebten nun ekelhaft an ihr.
Walküre ballt ihre Hände kurz zu Fäusten, öffnete und schloss sie wieder - sie kribbelten komisch. Dann drehte sie die Handgelenke etwas, zumindestens versuchte sie es, doch etwas hinderte sie daran.
Sie drehte den Kopf auf die linke Seite und sah an sich herunter.
„Was zum ... ", murmelte sie leise.
Dicke Lederriehemen spannten sich über ihrer Brust und ihrem Bauch. Ihre Beine und Fußgelenke waren ebenfalls festgebunden. Weitere Riehmen hielten ihre Hände an den jeweiligen Seiten des Gestells fixiert.
Langsam rüttelte sie an ihnen, doch anstatt etwas lockerer zu werden, zogen sie sich fester zu.
Walküre atmete tief ein und aus, ehe sie den Kopf auf die andere Seite drehte. Ihr Blick wanderte durch den leeren Raum, vorbei an dem einzigen kleinen Beistelltisch, auf dem eine Falsche Wasser stand, und blieb an Skulduggery hängen.
Er saß auf einem Stuhl aus Stahl, die Beine locker übereinander geschlagen, den Hut in seinem Schoß. Er las in einem Buch, dessen blauer Einband zwei gekreuzte Skalpelle zeigte.
„Skul-", sie musste sich erneut räuspern. „Skulduggery?"
Gemächlich schloss er das Buch und hob seinen augenlosen Blick.
Kurz dachte Walküre an ihren Traum - War es überhaupt ein Traum gewesen? - dann verdrängte sie es schnell.
„Wo bin ich?", fragte sie ihn
„Im fünften Stockwerk, Zimmer vierhundertzwei.", Skulduggery erhob sich von dem Stuhl und klemmte sich den Hut unter den Arm.
„Das Buch hier, solltest du mal lesen.", er hielt es hoch und kam langsam näher. „Eine durchaus interessante Lektüre von Boris Roger - er arbeitet hier."
„Hm."
Er legte das Buch auf dem Beistelltisch ab. „Würdest du es lesen wollen?"
Seufzend legte sich ihre Stirn in falten. „Am liebsten würde ich es dir gerade ins Gesicht werfen."
„Dachte ich mir.", Skulduggery ergriff die Wasserflasche aus Glas und schraubte sie auf.
„Trink etwas, deine Stimme hört sich ziemlich ... dünn an."
„Dann befrei mich von diesen Gurten!"
Er schüttelte den Kopf, trat einen letzten Schritt an die Liege heran und führte die Flasche über sie.
Genervt öffnete Walküre ihren Mund und kurz darauf spürte sie, wie die erfrischende Flüssigkeit in die Kehle herunterlief.
Als sie genug hatte, stellte er die Flasche zurück.
„Danke.", murmelte sie.
Er nickte nur.
„Kannst du mir sagen, was hier vor sich geht?", in ihr kochte die Wut hoch, ebbte aber sogleich wieder ab.
„Du erinnerst dich an nichts?"
„Würde ich sonst fragen?"
Skulduggery sah sie einen Moment lang stumm an, dann setzte er sich den Hut auf den Schädel und begab sich zur Tür.
„Bleib hier! Skulduggery!"
Das Skelett öffnete die Tür.
„Skulduggery!"
Und ging hinaus.
„Komm wieder her, du ... !", die eben abgeebbte Wut kochte wieder hoch und sie begann zu zappeln.
Zu schreien. „Komm zurück, du Bastard!"
Nach einigen Minuten lag sie schwer atmend dort. Die Lederriehemen schnitten ihr tief ins Fleisch und ihr Herz pochte hart gegen das Innere ihrer Brust, das Blut rauschte laut in ihren Ohren.
Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf.
Was war das denn gewesen?, fragte sie sich selber.
Sie kannte so ein Verhalten von sich nicht. Ohne Grund wurde sie nie wütend und schon gar nicht so sehr, dass sie anfing zu schreien und zu zappeln.
Sie hörte, wie die Tür sich öffnete.
„Und Sie sagen, sie könne sich an nichts erinnern?"
„Richtig."
„Sehr interessant."
„Als ich den Raum verließ, fing sie an zu schreien."
Walküre wandte ihren Kopf abermals um und öffnete ihre Augen.
Skulduggerys Arme waren vor seiner Brust verschränkt, er stand Cara Santas gegenüber. Diese rieb sich über das Kinn, als hätte sie einen Bart.
„Okay, okay.", sagte sie gedehnt. „Okay."
Clara drehte sich von Skulduggery weg und machte ein paar Schritte auf Walküre zu.
„Guten Morgen, wie geht es Ihnen?"
„Gut, denke ich.", erwiderte sie kurz.
Cara nickte. „An was können Sie sich als letztes erinnern?"
„Können Sie mir nicht einfach sagen, was los ist?", sie blickte die Wissenschaftlerin eindringlich an, dann sah sie zu Skulduggery, der neben der Frau zum Stehen kam. „Bitte?"
„Erst musst du uns ein paar Fragen beantworten."
Sie holte tief Luft. „Na gut ... Ich habe mich zu Letzt mit Pat un-", sie brach ab, „Nein, es gab noch etwas, an das ich mich erinnere - das war später: Ich konnte nicht schlafen, da bin ich draußen etwas spazieren gegangen."
„Ah!", machte Cara, „Wo sind Sie bei dem Spaziergang hingegangen?"
„Ich kam nach einiger Zeit auf eine Lichtung - hm - ich weiß nicht weiter.", antworte Walküre ehrlich.
„Okay, haben Sie irgendeine Erinnerung an den heutigen Morgen? Als Skulduggery Sie weckte?"
Walküre überlegte kurz, dann schüttelte sie den Kopf.
„Interessant.", Cara kratzte sich abermals am Kinn, „Und jetzt gerade, wie fühlen Sie sich?"
„Ein wenig genervt. Ich wüsste gerne, was hier los ist.", wieder blickte sie zu Skulduggery hinüber. Inzwischen lief er durch den Raum und besah die Kacheln der Wände, als wären sie Bilder.
„Eben, als Mr Pleasant den Raum verließ - Wie haben Sie sich zu diesem Zeitpunkt gefühlt?"
Walküre biss sich kurz auf die Unterlippe. „Unglaublich wütend, weil er einfach so ging. Ich weiß auch nicht, wieso. Es kam so plötzlich."
Skulduggery hielt inne und sah zu ihr herüber.
„Mh, hm.", Cara nickte. „Ich habe das Mittel etwas abgeändert, Mr Pleasant. Soll ich es holen?"
„Ja, gehen Sie."
Die Wissenschaftlerin verließ eilens den Raum und Skulduggery kam auf die Liege zu.
„Skulduggery, ich ... verstehe nicht -"
„Diese Lichtung, auf der du warst, war ein Aufladefeld. Die Santas-Zwillinge benutzen es um ihre Leistungsfähigkeit zu stärken, jedoch wird dabei übermäßig Adrenalin, Kortisol und Noradrenalin produziert. Das hat zur Folge, dass sich die Reizbarkeit und Wut in deinem Körper steigert."
Walküre wollte etwas erwidern, doch er redete schon weiter.
„Heute morgen, hast du mich angegriffen. Ich habe dich überwältigt und zu Cara Santas gebracht. Sie gab dir ein Gegenmittel, das aber eher einschläfern wirkte. Ich habe sie beauftragt, ihr jetziges abzuändern, sie-"
„Ich möchte das nicht nehmen.", funkte sie ihm dazwischen.
„Aber es wird auch den-"
„Skulduggery, bitte, ich will das nicht nehmen."
Er gab ein Geräusch von sich, das wie ein Seufzen klang. „Wieso?"
„Weil ... ", sie schwieg.
„Walküre, wenn du mir keine Antwort gibst, dann werde ich es dir verabreichen."
„Du sagtest, es wurde nur etwas abgeändert - Fall ich dann wieder ein einen Schlaf?"
Er zuckte mit den schmalen Schultern. „Höchstwahrscheinlich, ja."
Sie schluckte. „Ich ... Ich habe Dinge geträumt, die ich nicht träumen wollte."
Er schwieg für einen Moment, dann beugte er sich etwas zu ihr runter. „Was für Dinge?"
„Das Schlimmste war, dass ..."
„Dass?"
„Du mich umgebracht hast, bevor ich aufwachte. Du hast mich ausgelacht, saßt auf mir und hast mich gewürgt, dabei wolltest du mir unbedingt in die Augen sehen.", sagte sie atemlos.
Er öffnete seine Kiefer, schloss sie, öffnete sie und schloss sie schlussendlich wieder.
Als er so über sie gebeugt dastand und sie zu ihm hoch starrte, begann sie abermals zu schwitzen. Das salzige Wasser drang ihr aus den Poren und lief in Bächen über ihr Gesicht.
„Verstehe.", sagte er leise und richtete sich wieder auf, als hinter ihnen die Tür aufging.
Cara trug eine Spritze bei sich und hielt sie Skulduggery abwartend hin.
Dieser schüttelte nur seinen Kopf und Walküre atmete erleichtert auf.
„Wir kommen auch ohne weiteres Gegenmittel zurecht."
„Sind Sie sich sicher? Sie könnte bei jeder Kleinigkeit explodieren."
„Ich bin mir sicher.", damit begann er die Lederriehmen zu lösen.

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Hallöchen, schönen ersten Advent!
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Eure Leni

Der Ring des DrachensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt