50.| »Grässlich, bitte sag mir, dass er sie nicht umbringen wird. Bitte!«

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„Lese ich hier richtig, Grässlich?", Tanith besah abermals die Bücher, die vor ihr auf dem Tisch lagen. „Vier Urväter?"
Langsam drehte sie sich um. „Grässlich.", fragte sie.
Der breitschultrige Mann stand vor dem Waschbecken und schruppte seine schwarzen Stiefel.
Tanith stieß sich vom Tisch ab, durchquerte das Herzstück des Ateliers und blieb neben ihm stehen.
Schon fast gestresst schruppte er über das inzwischen saubere Leder der Stiefel. Seine Lippen waren so fest zusammen gepresst, dass sie nun wie ein dünner Strich aussahen und seine Augenbrauen hingen ihm tief im Gesicht.
„Hey,”, sie legte eine Hand auf seinen freigelegten, nassen Unterarm. „hör auf. Sie sind doch schon sauber.”
Tanith verdrehte seufzend die Augen, als er nicht reagierte, langte nach seinen Stiefeln und schmiss sie hinter sich auf den Boden.
Grässlich schraubte den Wasserhahn zu und legte den Schwamm zur Seite, dann trocknete er sich die Hände. 
„Du hast richtig gelesen.”, sagte er, „Vier Urväter.”
Abwartend sah sie ihn an.
„Wie sagte meine Mutter zu pflegen? Freunde im Krieg werden zu Feinden im Frieden.”
„Grässlich ...”
„Und bekannter Maßen war es so auch bei den Urvätern. Im Kampf gegen die Gesichtslosen standen sie zusammen, vertrauten sich, doch nachdem sie es schafften, diese Götter in eine andere Dimension zu verbannen, fingen sie an, sich gegenseitig niederzumetzeln. Bis am Ende nur noch einer übrig blieb.”
„Diese Legende kenne ich doch. Jeder kennt sie.”, Tanith seufzte.
„Und doch ist es nicht die ganze Wahrheit.”, Grässlich durchquerte den Raum und schlüpfte in seine Stiefel.
Sie sah ihm dabei zu.
„Menschen vertuschen vieles, Tanith.”, er richtete sich wieder auf, „Der vierte Urvater - Er traute es sich als erstes, die Magie zu ergreifen und zu nutzen. Die anderen folgten ihm ... Wie du sicherlich weißt, waren ihre Kräfte ungeheuerlich.”
Tanith nickte. „Sie konnten aufgrund dieser enormen Magie die Gesichtslosen ansehen ohne verrückt zu werden ... Munkelt man zumindestens.”
„Richtig.”, nun nickte Grässlich. „Und doch war der vierte Urvater mächtiger als alle drei zusammen. Es ist nicht ganz geklärt wieso, doch Skulduggery und ich vermuteten schon damals, dass er einen kräftigeren Schub in sich aufgenommen hat.”
„Wie genau soll ich das verstehen?”
„Das Universum belohnte ihn mit Macht.”
Tanith runzelte die Stirn. „Das Universum?”
„Vielleicht waren es auch Götter, man weiß es nicht, doch was für uns feststand war, dass man ihn dafür belohnte, die Magie als erstes benutzt zu haben.”
„Wieso war er der vierte, wenn er mit dem Gebrauch anfing?”
„Das weiß ich nicht ...”
Kurz kehrte Ruhe im Herzstück der Schneiderei ein, dann sprach Grässlich weiter.
„Er wirkte in der Bekämpfung der Gesichtslosen mit und erklärte den anderen Urvätern, wie sie die Göttermörder schufen mussten, damit sie effektiv waren. Sie gingen siegreich aus dem Kampf hervor und die Gesichtslosen verschwanden von der Erde.”, Grässlich ließ sich auf einen Stuhl nieder. „Die Legende, die heutzutage jeder Zauberer kennt, besagt, dass die Urväter schon kurz nach ihrem Sieg anfingen, sich gegenseitig auszuschalten, doch auch dies ist nicht richtig.”
Tanith kam auf ihn zu und lehnte sich gegen den Tisch. 
„Der vierte Urvater verhinderte ungefähr vier Jahre lang, dass zwischen den anderen drein das Fass überschwappte, doch selbst zog er sich allmählich immer mehr zurück. Erst in diesen Jahren spürte er die tosende Kraft in sich, ihm wurde klar, wie stark sie sein musste und genau das machte ihm Angst.”
„Angst? Er hat damit gekämpft, er müsste seine Kräfte doch inzwischen beherr-”
„Das stimmt, doch da die Gefahr gebannt war, wollte er sie nicht mehr einsetzen, er wollte wieder das tun, was er liebte und dazu brauchte er keine Magie.”
„Was war das?”, mit einem Ruck saß sie auf der Tischplatte.
„Kunst.”, Grässlich lächelte milde. „Er war ein Künstler.”
Tanith nickte aufmerksam.
„Eine Zeit lang half ihm seine Kunst, doch es kam immer wieder zu Ausbrüchen seiner Kräfte. Es trieb ihn auf ein Feld oder in einen Wald, wo ... mh ...”
„Was passierte?”, fragte sie neugierig.
Grässlich ergriff das dünnere der beiden Bücher, die auf dem Tisch lagen und zog es heran. „Sahafaran”, sagte er und deutete auf den langgezogenen, grünen Drachen, der sich über zwei Buchseiten erstreckte. 
„Ein Drache?”
„Ein Drache.”, bestätigte er.
Tanith atmete tief ein und aus. „Skulduggery und Walküre sind vor Jahren einem riesigen Drachen in den Katakomben unter Gordons Haus begegnet.”
„Ich weiß, doch das war ein richtiger Drache, einer, der Feuer speit, Fleisch und Knochen zwischen den Zähnen braucht, der dicke ekelhafte Schuppen und Krallten so lang wie ein Autodach hat. Aber das hier, Tanith,”, er tippte auf die Abbildung, „ist viel schlimmer als ein echter Drache ... es ist Magie - Macht.”
Die beiden musterten Sahafaran nochmals.
„Erzähl weiter ...”, bat sie.
„Was genau während dieser Ausbrüche passierte, ist mir unklar, doch zurück blieben verkokelte Bäume, verwelkte Pflanzen und verbrannte Erde ... Hilfesuchend wandte er sich an einen der anderen Urväter und vertraute sich ihm an. Im Verborgenen entwickelten sie zusammen den Ring des Drachens. Dieser Ring”, Grässlich nahm das andere Buch und schlug die nächste Seite auf, „sollte Sahafaran in ihm fesseln und unter Kontrolle halten.”
Tanith besah den Ring des Drachen, der detailreich auf der alten Buchseite protzte.
„Inzwischen sind wir an dem Zeitpunkt angekommen, von dem aus nur noch zwei Monate fehlen, bis die Urväter anfangen sich zu bekämpfen: Das Leben des vierten Urvaters ging bergauf, er verließ das Haus wieder, hatte Kontakt mit Menschen, verkaufte sogar seine Kunst, das dabei in ihm aufsprudelnde Gefühl ignorierte er jedoch, der Ring des Drachens sollte die Magie immerhin im Zaun halten.”
„Doch dem war nicht so, mh?”
Sie sahen sich gegenseitig an.
„Leider nicht ... Er und ein weiterer Urvater - der, der ihm half den Ring zu entwickeln - machten sich auf den Weg zu einem Dorf um dort seine Gemälde zu verkaufen, doch kaum waren sie eine Nacht dort, brach es aus ihm heraus. Es war wie ein heller, grüner blitz in der Nacht, der lautlos ein ganzes Dorf niederbrannte ... Menschen töte. Nur die zwei Urväter überlebten.”
„Er muss sich schrecklich gefühlt haben.”, Tanith seufzte. 
„Dieses Dorf war eines von fünf, die in den kommenden Wochen - auf ihrer Heimreise - niederbrannten.”
„Oh Gott.”
„Der Ring schien das Problem zu sein. Er war keine Rettung mehr, sondern eine Waffe geworden.”, Grässlich legte das Buch ab, „Einen halben Monat später waren sie zurück und versuchten den Ring des Drachens von dem Kopf des vierten Urvaters zu lösen, doch er war wie festgewachsen.”
„Moment mal,”, unterbrach Tanith ihn. „Es hieß Ring und doch trug er ihn auf dem Kopf?”
Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe ihn nicht erfunden."
„Okay.”
„Derweil befürchteten die übrigen zwei Urväter - sie wussten von dem ganzen Dilemma nichts - , dass man sich gegen sie verschworen hatte, weswegen sie einen Angriff planten ...
Die wenigen Wochen vor dem Urväter-Gau - ja, ich nenne es so - verbrachte der vierte Urvater damit, sich in einen tiefen meditativen Zustand zu versetzen, der ihn in seinem eigenen Geist gefangen hielt. So wollte er Sahafaran bendigen.”
„Das würde nicht einmal Skulduggery schaffen, oder?”
„Ich weiß es nicht.", Grässlich seufzte einmal, „Die Urväter griffen an. Sie kämpften erbittert. Zwei gegen einen. Und doch gewann der, von dem wir uns sicher sein können, dass er der Vorfahre der Edgleys ist.”
Tanith sah ihn stumm an. 
„Du willst wissen, was mit dem vierten ist ... Während des Kampfes verbarg man seinen Körper in einem Bunker tief unter dem Land, auf dem man das heutige Dublin findet.”
„Er wurde nicht umgebracht?”
„Nein.”
„Aber so wäre die Gefahr doch gebannt gewesen. Tötet man ihn, tötet man Sahafaran.”
„Das stimmt, doch der dritte Urvater brachte es nicht über das Herz.”
„Wieso nicht, er hat doch die anderen zwei auch getötet. Freunde im Krieg werden zu Feinden im Frieden, so wie du sagtest.”
„Die beiden haben viel zusammen erlebt, ich erzählte es dir doch gerade.”
Tanith verschränkte die Arme. „Würdest du Skulduggery töten, wenn du wüsstest, du würdest viele Leben retten?”
Grässlich fuhr sich über das Gesicht.
„Ich würde es tun, Grässlich, hin oder her, ob wir schon viel zusammen erlebt haben.”
„Blut ist dicker als Wasser.”
„Moment ... Was?”
„Der vierte Urvater war der kleine Cousin des dritten.”
Taniths Mund blieb offen stehen.
„Und jetzt sind wir wieder vorne angekommen: Menschen vertuschen vieles.”
Tanith schwieg einen Moment, sah die Bücher an und dann wieder Grässlich. „Also hat der dritte Urvater das Dilemma mit seinem Cousin vertuscht?”
„Richtig. Es gibt nur sehr wenige Leute, die die ganze Wahrheit kennen.”, Grässlich lehnte sich auf dem Stuhl zurück.
Tanith stieß sich vom Tisch ab und begann, im Raum auf und ab zu gehen.
Nach fünf Minuten sah sie wieder zu Grässlich. „Gut, jetzt hast du mir die wahre Geschichte der Urväter erzählt, aber was haben die und Sahafaran mit dem abgebrannten Haus von Mike zu tun?
Willst du damit etwa sagen, dass irgendjemand Sahafaran frei gelassen hat und der ausgerechnet Mikes Haus abgebrannt hat? Das-"
„Nein, das will ich damit nicht sagen. Man lässt Sahafaran nicht einfach wie einen Vogel mal so frei, das geht nicht.”
„Du sagtest aber, das der vierte Urvater nicht umgebracht wurde.”
„Nicht von seinem Cousin, aber von Skulduggery.”
"Okay, stopp, stopp, stopp!", sie raufte sich die Haare, zog die Stirn kraus und sah ihn verwirrt an. „Skulduggery? Von unserem Skulduggery?”
„Der Körper des Urvaters alterte noch langsamer als gewöhnlich; das lag nicht nur an seinen Fähigkeiten, sondern auch an der Tatsache, dass er diesen meditativen Zustand eingenommen hatte. Vor ungefähr einhundert Jahren jedoch holte ihn jemand aus der Meditation zurück ... Danach brach das Unheil los, Tanith, das kann ich dir sagen.”, er schüttelte den Kopf. „Der Ring des Drachens hatte über den Willen des Urvaters gesetzt und fast ganz Dublin ausgelöscht ... Die toten Männer und ich sollten ihn aufhalten.
Anton, Saracan, Ravel und ich waren dafür, ihn wieder in seinen Geist zu schicken, da er diese ganzen Morde nicht begehen wollte, doch Dexter und Skulduggery ...”, erneut schüttelte er den Kopf. „Frag mich bitte nicht wie, denn ich weiß es nicht, doch Skulduggery tötete ihn.”
„Was passierte mit dem Ring des Drachens?”
„Skulduggery und Dexter versteckten ihn. Nur sie wissen, wo er ist.”
Taniths Miene verzog sich und sie starrte Grässlich besorgt an.
„Ich weiß, ich weiß, aber Dexter ist nicht darauf aus, alle umzubringen, er ist nur ... verrückt geworden. Durchgedreht, aber nicht mordlustig, glaub mir.”
„Bist du dir sicher? Dexter Vex treibt sich seit Jahren im Untergrund herum und ich habe genug in Erfahrung bringen können, dass er sich mit Leuten abgibt, die eine verdrehte Ideologie haben, die ihn ausnutzen könnten.”
„Er würde denen niemals verraten, wo sich der Ring des Drachens befindetet.”
Wieder wurde es still im Herzstück des Ateliers. 
„Okay. Sahafaran, Mikes Haus ...  Was hat es damit auf sich.”, Tanith setzte sich erneut auf den Tisch und faltete ihre Hände zusammen.
Grässlich zögerte kurz. „Hast du Hope schon einmal tief in die Augen gesehen?”
„Wi- Grässlich?”
Der Schneider starrte auf die beiden Bücher. „Es schlängelt sich in ihren Augen, Tanith.”
„Ich-”
„Sie ist eine Nachfahrin. Sie hat es im Blut. Saharafan ist in ihr!”, er schlug sich auf den Schenkel.
„Wieso bringt Skulduggery sie dann her? Sie hat all die Jahre nie eine Bedrohung dargestellt. Jetzt, da sie weiß, dass sie Fähigkeiten haben könnte, könnte das alles unglaublich schiefgehen.”
Grässlichs Hände ballten sich zu Fäusten, seine Finger knackten, die Knöchel stachen weiß hervor und seine Lippen waren fest zusammengepresst. Er stand auf, nahm die Bücher und ging zu dem Bücherregal, zog den Hebel hervor und sah zu, wie die Geheimtür aufschwang.
Tanith sprang auf. "Nein!”, sie wurde blass. „Grässlich, bitte sag mir, dass er sie nicht umbringen wird. Bitte!"

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Taadaaa,
Ich hoffe wirklich, dass euch das Kapitel gefällt, denn ich hab so lange dran gearbeitet... Das hat mich fast in den Wahnsinn und schlimmer noch in eine Schreibblockade getrieben.
Hinterlasst doch gerne Feedback und/oder Votes.
Eure Leni :)

Der Ring des DrachensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt