KAPITEL XXXI

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Annabeth

Also ging sie kurzentschlossen zu Chiron, den sie um diese Uhrzeit auf der Veranda vermutete.

Sie behielt Recht. Ihr Mentor saß dort hin seiner menschlichen Gestalt in seinem Rollstuhl und beobachtete mit wachsamen Augen seine Schützlinge, wie sie über den Hauptplatz eilten und Dinge erledigten.

Sie räusperte sich. Der Zentaur zuckte zusammen und drehte sich um. Als er Annabeth jedoch entdeckte, lächelte er leicht.

„Annabeth, schön dich zu sehen.", meinte er. „Setz' dich doch."

Sie zog sich einen der großen Stühle heran, die auf der Veranda standen und ließ sich nieder. Eigentlich war es ein schöner Tag, doch sie konnte in nicht so Recht genießen. Sie betrachtete Chiron von der Seite. In den Jahren, die seit ihrer Ankunft verstrichen waren, hatte sie den schleichenden Prozess der Veränderung an ihm nicht bemerkt, doch inzwischen tat sie das.

Ihr Mentor wirkte älter. Die Fältchen um seine Augen waren tiefer, der Blick vielleicht ein wenig trauriger. Eigentlich war ihr immer klar gewesen, dass er mehrere tausende Jahre alt war, doch erst seit dem Ende des Krieges gegen Gaia hatte sie ihm das äußerlich ansehen können. Er wirkte erschöpft und aufgebraucht. Doch trotzdem tat er immer alles in seiner Macht stehende, um die Halbgötter zu unterrichten, vermutlich, weil er es nicht übers Herz brachte, irgendwen im Stich zu lassen.

„Bald haben wir alle unsere Pläne in die Tat umgesetzt. Dann können wir nur noch hoffen, dass es reicht und trainieren.", sagte sie, um ihre düsteren Gedanken zu vertreiben. Sie wollte jetzt nicht darüber nachdenken, ob sie ihren Mentor verlieren könnte. Das würde sie jetzt nicht aushalten.

„Es wird reichen.", in Chirons Stimme war nicht der Hauch eines Zweifels zu hören, das heiterte Annabeth ein wenig auf. Er drehte seinen Kopf zu ihr, seine Augen blitzten belustigt. „Und jetzt raus' mit der Sprache, Annabeth. Weshalb bist du hergekommen? Ich kenne dich, seit du ein kleines Mädchen bist und ich kann mir nicht vorstellen, dass du hergekommen bist, um mit mir über die fast fertiggestellten Verteidigungsmaßnahmen zu reden."

Annabeth schmunzelte. „Du kennst mich einfach zu gut. Und natürlich hast du Recht. Wie immer.", fügte sie noch hinzu.

„Was liegt dir auf dem Herzen?", hakte Chiron weiter nach.

So vieles, dachte Annabeth. Aber das sagte sie natürlich nicht. 

„Mir geht Percy einfach nicht aus dem Kopf. Die ganze Zeit denke ich daran, was er wohl gerade tut und was für Fortschritte er vielleicht in diesem Moment macht. Ich will wissen, wie es ihm geht. Mehr als alles andere. Natürlich weiß ich, dass das zu diesem Zeitpunkt unmöglich ist, aber ich frage mich-...", sie verstummte.

„Du fragst dich, ob ich mich an irgendetwas erinnern kann.", beendete Chiron den Satz. Annabeth nickte leicht.

Für ein paar Sekunden wurden Chirons Augen seltsam leer und richteten sich in weite Ferne, als würde er Tage noch einmal erleben, die in der Vergangenheit lagen. Dann war das vorbei, er blinzelte, wie um einen schlechten Geist zu vertreiben. Der Zentaur schenkte Annabeth ein trauriges Lächeln.

„Es tut mir leid, Annabeth, ich kann dir nicht weiterhelfen.", sagte er.

Die Tochter der Athene runzelte verwirrt die Stirn. Das alles machte doch keinen Sinn. Chiron hatte zu dieser Zeit gelebt und Halbgötter ausgebildet. Warum also wusste er nichts? Wollte er ihr keine Auskünfte geben? Aber warum würde er so etwas tun? Es war gegen seine Natur, einem Halbgott nicht zu helfen, egal, um wen es sich handelte. Es sei denn-...

„Haben die Götter-...?", bevor sie diesen Satz beenden konnte, wurde sie von ihrem Mentor unterbrochen.

„Nein, die Götter haben mir nicht verboten, darüber zu reden. Ich kann dir nichts darüber erzählen oder sagen, wie es Percy geht, weil ich zu dieser Zeit nur selten im Camp war.", klärte Chiron sie auf.

Jetzt war Annabeth vollends verwirrt. Sie wollte tausend Fragen stellen, um das irgendwie zu verstehen, aber ihr Gegenüber hob eine Hand, um sie davon abzuhalten und ihr zu bedeuten, dass sie ihn ausreden lassen sollte.

„Der Krieg zwischen den Camps hat mit einem kleinen Einsatz begonnen, bei dem sich griechische und römische Halbgötter in die Quere gekommen sind. Das alles endete in einem grauenvollen Blutbad, auf den der Krieg folgte.", er machte eine kleine Pause. „Mir war von Anfang an klar, dass das Alles noch viel größere Ausmaße annehmen könnte, als es das ohnehin schon tat. Und da ich die Römer bereits in kleineren Angriffen gezeigt hatten, dass mit ihnen nicht zu Spaßen war, wollte ich lieber früher als später weitere Verbündete finden, um Camp Half-Blood, unser Zuhause, zu verteidigen. Deswegen bin ich viel herumgereist, um jeden, den ich finden konnte, zu rekrutieren."

Plötzlich ging Annabeth ein Licht auf. „Die Party-Ponys.", schlussfolgerte sie.

Chiron nickte mit einem Lächeln auf den Lippen. „Damals waren sie aber noch nicht die Party-Ponys, wie du sie heute in Erinnerung hast, meine Liebe. Damals handelte es sich bei ihnen um viele kleine Zentauren-Stämme, die über die Wildnis in den USA verteilt waren. Sie zogen umher und lebten ihm Einklang der Natur. Manchmal wünsche ich mir diese Zeiten zurück, aber das alles hatte auch seinen Nachteil. Im Ernstfall war es unglaublich schwer, sie alle aufzutreiben und zu versammeln. Jetzt, im Nachhinein habe ich das Gefühl, als wäre ich damals jahrelang herumgereist. Irgendwann habe ich dann eine kleine Gruppe von Zentauren, vielleicht fünfundsiebzig Mann zurück nach Halfblood-Hill geführt, die uns bei der Verteidigung halfen."

Während er erzählte, hing Annabeth regelrecht an seinen Lippen. Sie erfuhr vielleicht nicht, wie es Percy ging, aber dafür erhielt sie andere, wichtige Informationen über die Vergangenheit. Außerdem hatte Chiron ihr noch nie so viel über sich und seine vergangenen Lebensjahre erzählt.

„Deswegen kann ich dir nicht sagen, wie es Percy geht, Annabeth. Ich war nicht dort. Und wenn doch, dann nur für kurze Zeit. Glaube mir, in den letzten Wochen habe ich das mehr als einmal bitter bereut, aber damals hatten wir diese Hilfe dringend nötig.", schloss Chiron seine Erzählung.

„Es ist in Ordnung. Ich verstehe das. Außerdem hattest du damals keine Wahl, genauso wenig, wie wir jetzt eine Wahl haben.", Annabeth seufzte.

„Ja, wir haben auch jetzt keine Wahl. Zumindest keine Richtige. Aber inzwischen hat sich so viel geändert. Römer und Griechen kämpfen gemeinsam, wir sind stärker als jemals zuvor. Vergiss das nicht, Annabeth."

Sie sah ihn dankbar an, ein paar Herzschläge lang fühlte sie sich tatsächlich besser.

„Wer hat das Camp in deiner Abwesenheit geleitet?", fragte sie neugierig.

„Die Athene-Hütte hat die Verteidigung organisiert, falls du das meinst. Und, genau wie jetzt, hat man sehr viel Wert auf die Meinung der erfahrenen Halbblute gelegt. Hütte 1 war am einflussreichsten.", erzählte Chiron. Annabeth kam es so vor, als könne er jetzt, da er erst einmal angefangen hatte, über den Krieg zu berichten, nicht mehr aufhören. Gespannt lauschte sie seinen Worten. Er erklärte ihr, wie die Hierarchie im Camp damals aufgebaut war, oder berichtete wie viele Kinder es von jeder Gottheit ungefähr gab. Es war faszinierend an wie viele Details er sich noch erinnern konnte.

Zum ersten Mal dachte sie daran, wie es für Percy sein würde, halbgöttliche Geschwister zu haben. Das war etwas, das er nie in seinem Leben gehabt hatte- bis jetzt. Bei dem Gedanken, wie er mit anderen Jugendlichen mit meergrünen Augen zusammen scherzte, wurde ihr plötzlich ganz warm ums Herz.

Vielleicht hatte das Alles ja doch eine winzig kleine positive Seite.

Die Macht der MeereWo Geschichten leben. Entdecke jetzt