Bethany
Ellen sah aus, als hätte Bethany ihr einen Schlag ins Gesicht verpasst. Ihr Gesicht war ohnehin noch blass, aber bei all dem Blut, das sie verloren hatte, war das kein Wunder. Nun konnte sie aber auch noch Angst in ihrem Gesicht sehen. Sekunden zuvor hatte sie vermutlich noch gedacht, dass sie die Einzige aus Hütte 3 gewesen war, die schwerer verletzt wurde, doch dieser Irrtum war nun aus der Welt geschafft worden.
Bethany spürte Ellens prüfenden Blick auf sich. Als könnte sie hinter ihre harte Schale blicken und das Chaos, das in ihrem Inneren herrschte, sehen.
„Du würdest mir doch sagen, wenn irgendetwas ist, oder?", Ellen klang bittend.
Sie musste ihr von Scott erzählen. Bethany wollte das nicht tun, sie wollte, dass sich Ellen darauf konzentrierte, wieder gesund zu werden. Aber sie war es ihr schuldig, die Wahrheit zu sagen.
Sie musste ihr sagen, dass Scott tot war.
„Bethany? Was ist denn los?", Ellens Stimme war nun voller Furcht.
Bethany streichelte sanft ihren Handrücken. Als sie endlich sprach, zitterte ihre Stimme.
„Scott ist tot."
Sie hasste es, dass sie das sagen musste. Sie hasste diesen und letzten Tag, an dem ihre ganze Welt auseinanderbrechen zu schien.
„Was?", Ellen klang ungläubig. Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Er versteckt sich bestimmt hier irgendwo. Sag' ihm, dass er mit dem Blödsinn aufhören und rauskommen soll!", sie sah sich hektisch um. „Scott, lass den Scheiß! Scott!"
„Ellen, es ist wahr. Scott ist nicht hier.", Bethany legte ihr eine Hand auf die Schulter, doch sie schlug sie weg. Ihre Augen glänzten fiebrig und verwirrt. Bethany warf Nick einen hilflosen Blick zu. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Im einen Augenblick hatte sie noch vollkommen normal auf sie gewirkt, aber plötzlich schien Ellen verrückt. Woher kam diese Veränderung?
Plötzlich stand Nick auf der anderen Seite des Bettes, er hielt ein kleines Fläschchen in der Hand. Er beugte sich zu Ellen hinunter und legte ihr die Hand auf die Stirn.
„Ellen, du hast schlecht geträumt.", er entkorkte das Fläschchen und hielt es ihr hin. „Trink das, dann wird es dir besser gehen."
Bethany beobachtete, wie Ellen die klare Flüssigkeit trank und sich dann zurück ins Kissen sinken ließ. Sie strich ihrer Schwester über die Haare, eine Minute später war sie eingeschlafen.
Nun wandte sie sich Nick zu und funkelte ihn wütend an.
„Warum hast du sie angelogen?", wollte sie wissen. „Warum hast du ihr gesagt, dass Scotts Tod nur ein schlechter Traum ist? Das ist es nämlich nicht. Das hier ist real."
Bethany stemmte ihre Hände die Hüften, es war, als würde der ganze aufgestaute Frust den Damm durchbrechen. Nick erwiderte ihren Blick gelassen und ein bisschen mitleidig.
„Weil es ihr zwar gut zu gehen scheint, aber sie ist immer noch krank. Ellen ist verwirrt und braucht Ruhe, um wieder gesund zu werden. In ihrem jetzigen Zustand kann sie diese Information nicht richtig verarbeiten.", erklärte Nick geduldig.
„Es war also ein Fehler, ihr zu sagen, dass ihr Bruder tot ist?", Bethanys Stimme klang bitter.
„Nein, es war vielleicht nur nicht der richtige Zeitpunkt.", kam es zurück.
Bethany stieß ein tiefes Seufzen aus. Das tausendste in dieser Nacht.
„In letzter Zeit versage ich ganz schön oft, was?", murmelte sie eher zu sich selbst, als zu irgendjemand anderem. Aber Nick hörte sie trotzdem.
„Sag doch so etwas nicht.", meinte er aufmunternd. „Du hast nicht versagt."
Er schenkte ihr ein Lächeln, das ihr vermutlich neuen Mut schenken sollte, doch es wirkte nicht. Stattdessen verzog Bethany ihr Gesicht. „Doch, ich versage. Wenn ich nicht versagt hätte, dann würde ich jetzt nicht hier sein. Dann würden wir uns alle in Hütte 3 befinden und Scott wäre noch am Leben."
„Ach ja? Was hättest du denn tun können? Und wie hätte das geendet? Wäre es dir lieber, wenn du an seiner Stelle gestorben wärst?", jetzt klang Nick auch wütend.
Über die Antwort musste Bethany keine Sekunde nachdenken.
„Ja! Das wäre meine Pflicht gewesen. Als Hüttenälteste müsste ich mich vor meine Geschwister stellen, sie beschützen und retten. Aber stattdessen-..."
„Stattdessen hast du das Camp gerettet! Das hat vielleicht noch niemand ausgesprochen, aber wir wissen es alle. Wenn du und die anderen aus Hütte 3 nicht gewesen wert, dann wäre die Schlacht vielleicht ganz anders ausgegangen. Zählt denn das gar nichts?", Nick klang fast schon bittend.
Bethany wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, deswegen drehte sie ihm den Rücken zu und sah zu ihren Geschwistern. Bei Ellen wusste sie inzwischen, dass sie überleben würde, aber Percy?
„Ich bin froh, dass dir nichts passiert ist, Bethany.", Nicks Stimme war leise. „Mach dich bitte nicht wegen Scott fertig. Er hätte das nicht gewollt."
Schritte waren zu hören und sagten ihr, dass er sich entfernte, wahrscheinlich nahm der Sohn des Apollon wieder hinter seinem Schreibtisch am anderen Ende des Raumes Platz. Ohne, dass sie es wollte, grübelte sie über seine Worte nach. Stimmte es? Hatten sie und ihre Geschwister das Camp gerettet? Trotz des hohen Preises, den sie dafür bezahlen mussten? Bethany wollte es nicht so recht wahrhaben.
Eigentlich müsste sie sich doch freuen, weil das Camp die Schlacht gewonnen hatte. Aber wie konnte man sich über etwas freuen, das mit so viel Schmerz verbunden war?
Die Ereignisse des letzten Tages und der Nacht hatten zudem etwas bestätigt, was sie immer befürchtet hatte: Als Halbgott lohnte es sich nicht, eine Zukunft zu planen. Egal, was es war, immer würde etwas dazwischenkommen und jeden Plan, den man schmiedete, zerstören. An dem einen Tag war man noch glücklich, aber schon am nächsten konnte für einen die Welt auseinanderbrechen. Wenn alles so ungewiss war, wie konnte man es dann überhaupt wagen, auch nur an den nächsten Tag zu denken? Seit Jahren nun lebte sie immer nur in den Tag hinein und wartete ab, was dieser mit sich brachte. Nie hatte sie irgendwelche Träume verfolgt, oder eine Beziehung geführt, aus Furcht davor, was sie zurücklassen könnte, wenn sie plötzlich starb.
Also hatte sich das, was ihr vorausgesagt worden war, letztendlich doch erfüllt. Ihre größte Schwäche, sich aus Angst vor der Zukunft auf nichts einlassen zu können, hatte sich bestätigt und vor allem, war sie gerechtfertigt. Das hatte ihr diese Schlacht vor Augen geführt. Ihr war gesagt worden, dass sie deswegen irgendwann verbittert sterben würde, ihr Gefühl sagte ihr, dass es so kommen musste. Es gab keinen anderen Weg. Nicht für sie.
Den Rest der Nacht saß sie einfach nur da und wachte über ihre Geschwister. Ellen drehte sich ab und zu im Schlaf, doch sie wachte nicht auf. Percy stattdessen lag noch immer einfach nur da und rührte sich nicht. Es Bethany sogar beruhigen, wenn er ab und zu ein Geräusch von sich geben oder sich umherwälzen würde. Denn das wäre ein Zeichen, dass er noch lebte und gegen das Gift ankämpfte. Aber da war nichts.
Doch Bethany stellte auch fest, dass er sich nicht mehr aufzulösen schien. Seine eine Hand war zwar immer noch nicht greifbar und auch sein Arm war bis zum Ellenbogen sehr durchscheinend, aber das hatte sich nicht weiter ausgebreitet.
Immer wieder spürte sie Nicks Blick auf sich, aber sie hob nicht den Kopf, um ihn zu erwidern.
Irgendwann wurde der Horizont heller, der Sonnenaufgang kündigte sich an. Schon bald würde es wieder geschäftiger auf der Krankenstation werden, dann müsste Bethany wie immer ihre Fassade aufrechterhalten.
Als der erste Sonnenstrahl über den Horizont kroch, wachte Ellen erneut auf.
Und Bethany lächelte und tat so, als würde in ihrem Inneren kein Sturm toben.
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Die Macht der Meere
FanfictionPercy und Annabeth gehen in Neu-Rom aufs College, die Halbgötter können in Frieden leben, mit jedem Tag verbessern sich die Beziehungen zwischen den Camps. Alles hätte so schön sein können. Doch dann erhebt sich Pontos, der Ur-Gott aller Meere- und...