KAPITEL LIX

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Annabeth 

Sie beobachtete, wie Apollon neben Percys Bett stehen blieb. Ihr Freund machte keinen guten Eindruck. Jedes Mal, wenn sie ihn ansah, konnte sie ihr Herz brechen hören. Aber das konnte jetzt vorbei sein. Dieser Alptraum hatte ein Ende. Apollon würde ihn zurückholen. Er würde es schaffen.

Doch noch wagte sie es nicht, ihre Hoffnungen zu schüren. Annabeth fühlte sich wie in Trance, die Sekunden zogen nur so an ihre vorbei, ohne, dass sie wirklich bemerkte, was um sie herum geschah. Ihr Fokus lag gänzlich auf Percy und Apollon. Sie bekam nicht einmal mit, wie Jason, Piper, Leo und die Anderen Hütte 3 betraten.

Sie betete auch nicht zu irgendeiner Gottheit, dass sie auf Percy aufpasste. Die Götter hatten sie schon lange verlassen. Stattdessen dachte sie an Psyches Worte zurück und daran, dass die Liebe stärker war, als alles andere. Dass sie eine Macht für sich war. Sie musste einfach darauf vertrauen, dass Percy zu ihr zurückfand. Sie musste.

Annabeth konnte nicht wirklich sagen, was in ihr vorging. Sie hatte die Vermutung, dass sie so viel auf einmal fühlte, dass sie deswegen von Taubheit ergriffen wurde. Wie bei so starken Verbrennungen, bei denen man die Hitze nicht spürte, weil alle Nerven, die Signale an das Gehirn senden konnten, bereits zerstört waren.

Apollon hob nun seine Hände und ließ sie in einer Höhe von eineinhalb Metern über Percys Körper schweben. Er schloss die Augen und fing an, irgendetwas in einer ihr unbekannten Sprache zu murmeln. Zuerst tat sich gar nichts, doch dann fing der Gott der Heilkunst an, in einem warmen Goldton zu leuchten. Im ersten Augenblick dachte Annabeth, dass sie nun die Augen abwenden musste, weil er seine wahre Gestalt annahm, doch das Leuchten war anders. Wärmer, nicht so grell und vor allem vermittelte es ein Gefühl der Sicherheit. Davor musste sie keine Angst haben. Dieses Glühen stellte die Harmonie von Körper und Geist wieder her.

Apollons Singsang wurde immer drängender und lauter. Auch das Leuchten verstärkte sich und ging nun auf Percy über, bis der Gott und er beide golden erstrahlten. Doch plötzlich taumelte Apollon ein paar Schritte nach hinten, als hätte ihm irgendjemand einen Schlag ins Gesicht verpasst und das Leuchten verblasste urplötzlich. Er wirkte verstört, mit weit aufgerissenen Augen hob Apollon eine Hand an und fasste sich an die Nase. Als er sie wieder senkte, war sie golden und nass. Ichor.

Apollon wirkte fast schon überrascht, als hätte er niemals damit gerechnet, dass er tatsächlich aus der Nase bluten konnte. In diesem Moment wurde Annabeth klar, dass etwas nicht stimmte.

„Was ist los?", wollte sie wissen. „Apollon, was stimmt nicht?"

„Es-... es sollte nicht so schwer sein.", murmelte er zurück.

„Und was bedeutet das?", wollte Will wissen, der ein paar Meter hinter seinem Vater stand. „Bedeutet das-...?"

„Noch bin ich nicht am Ende meiner Kraft angekommen.", fiel Apollon ihm ins Wort. Er holte ein paar Mal tief Luft, um sich zu wappnen. Dann schloss er erneut die Augen und hob die Hände. Er sah entschlossener aus, als noch zuvor. Seine Mundwinkel waren verkniffen.

Wieder setzte der Singsang ein und kurz darauf folgte auch das goldene Glühen. Doch dieses Mal war es anders, als beim ersten Versuch. Wenn das Gemurmel von Apollon davor schon eindringlich gewesen war, dann hatte er das jetzt um ein Vielfaches gesteigert. Allein die Worte zu hören, die nicht einmal an sie gerichtet waren, jagte Annabeth einen Schauer über den Rücken. Sie konnte die Macht des Gottes spüren, die feinen Härchen auf ihren Armen stellten sich auf. Sie brauchte nicht in die Gesichter der Anderen zu blicken, um festzustellen, dass auch sie es fühlten.

Jede Sekunde zog sich eine kleine Ewigkeit. Die Minuten verstrichen und die Macht wuchs stetig an. Es war fast nicht mehr zum Aushalten. Jede Faser ihres Körpers forderte sie dazu auf, die Hütte zu verlassen und ein wenig frische Luft zu schnappen, doch sie blieb stehen. Sie würde Percy nicht verlassen.

Irgendwann kam Apollon wieder ins Stocken. Sofort richtete Annabeth ihren Blick auf ihn. Auf seiner Stirn perlte der Schweiß, das Blut war zwar inzwischen verkrustet, doch dafür waren seine Augen golden gerändert. Er schien einen Kampf auszufechten, welcher es war, konnte sie nicht sagen. Aber sie sah, dass es den Gott ans Ende seiner Kräfte brachte. Und diese Erkenntnis jagte ihr eine gewaltige Angst ein.

Unwillkürlich hielt sie die Luft an. Spannung lag in der Luft. Und dann ließ Apollon seine Hände sinken und taumelt erneut ein paar Schritte nach hinten. Wenn Will ihn nicht gestützt hätte, dann wäre er vermutlich zu Boden gegangen. Das goldene Leuchten um ihn herum verblasste, jedoch nicht um Percy. Er leuchtete noch immer.

„Dad!", Will klang erschrocken. „Was ist?"

„Mir geht es gut. Das wird schon wieder.", gab Apollon gepresst zurück, nahm die Hilfe seines Sohnes jedoch an und ließ sich stützen. Seine Augen richteten sich auf Annabeth. „Ich habe alles getan, was ich konnte. Und ich denke, dass ich Erfolg hatte."

„Du denkst es?"

„Ja, mit absoluter Sicherheit kann ich es dir nicht sagen. Es war komplett anders, als es hätte sein sollen. Normalerweise muss die Seele dazu gezwungen werden, dass sie sich von dem Körper trennt. Und normalerweise sollte das Zurückholen fiel einfacher sein, weil die Seele und der Körper wieder vereint werden wollen. So sagt es zumindest die Theorie. Aber es schien, als wäre das hier nicht der Fall.", erklärte Apollon langsam. Er machte einen verwirrten Eindruck, als würde er es selbst nicht so recht verstehen.

„Aber was bedeutet das jetzt genau? Hast du es geschafft, Percy zurückzuholen?", verlangte Annabeth zu wissen.

„Wir müssen abwarten, ob er aufwacht."

„Und wann wird das der Fall sein?", diesmal war es Jason, der sprach. Er tat so, als hätte er das unheilvolle ob überhört. Stattdessen ging er sicher davon aus, dass Percy aufwachen würde. Annabeth konnte sehen, wie sich Pipers Hand in die von ihrem Freund schlich.

„Ich weiß es nicht. Minuten, Stunden, Tage, Wochen.", Apollon seufzte. Geistesgegenwärtig drückte Kayla Knowles ihm ein Glas in die Hand, das mit Nektar gefüllt war. Er nahm es dankbar entgegen. „Ich denke, es ist das Beste, wenn wir so weitermachen, wie bisher.", er warf seinen beiden anwesenden Kindern einen auffordernden Blick zu. „Ihr müsst mir sofort Bescheid geben, wenn sich irgendetwas verändert. Will, Kayla, auf ein Wort."

Apollon und seine beiden Kinder verließen schnell die Hütte, um noch ein paar Dinge zu besprechen. Annabeth und die Anderen blieben zurück, ein wenig Ratlosigkeit stand ihnen allen ins Gesicht geschrieben. Und Percy leuchtete noch immer.

„Was machen wir jetzt?", fragte Nico leise.

Annabeth zögerte einen Moment und machte einen Schritt auf das Bett, in dem Percy lag, zu. Ihre Hand zitterte, als sie sie ausstreckte. Es kostete sie ein wenig Überwindung, seine Hand zu nehmen. Nicht, dass sie es nicht gewollt hätte. Sie wollte nur diesen Zauber, der um ihn herumlag, nicht zerstören. Doch dann tat sie es doch. Seine Hand war warm.

Sie richtete ihren Blick auf Percys geschlossene Lider, hinter denen dieses wunderschöne Grün schlummerte.

„Wir warten."

Die Macht der MeereWo Geschichten leben. Entdecke jetzt