KAPITEL LII

740 42 6
                                        

Bethany 

Nick, ein Sohn des Apollon, war gerade fertig damit, Ellens Wunde zu versorgen, als Bethany plötzlich Schreie hörte. Sie kamen definitiv von außerhalb, sie vermutete, dass es der Flur vor der Krankenstation war. Jemand rief um Hilfe.

Bethany erkannte die Stimme von Quinn. Augenblicklich lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken.

„Was zum Hades?", murmelte sie, warf ihrer bewusstlosen Halbschwester einen schnellen letzten Blick zu und stürzte dann auf die Tür zu. Auch die anderen Heiler, und teilweise auch Geschwister, die sich in der Krankenstation befanden, waren auf die Laute, die ertönten, aufmerksam geworden, doch Bethany war die erste, die bei der Tür ankam. Sie packte die Klinke und riss sie auf.

Zuerst konnte ihr Gehirn die Szene, die sich vor ihren Augen abspielte, nicht richtig erfassen. Eigentlich sah sogar alles normal aus, zumindest so, wie sie es erwartet hatte. Ängstliche und besorgte Gesichter. Aber dann entdeckte sie ihre Brüder und ihre Innereien gefroren von einer Sekunde auf die Andere. Quinn kniete auf dem Boden, ebenso wie Ezra, Ryan erwiderte mit weit aufgerissenen Augen Bethanys Blick.

Auf dem Boden lag Percy.

Nein, schoss es Bethany durch den Kopf. Nicht noch jemand!

Sie rannte zu ihren Geschwistern und sank neben Quinn auf die Knie. Jetzt konnte sie Percy besser sehen, er sah furchtbar aus. Über und über mit Blut besudelt und leichenblass lag er da, im ersten Augenblick dachte Bethany schon, dass er tot war. Aber dann sah sie, dass er noch atmete. Seine Brust hob und senkte sich nur ganz leicht, aber er atmete. Also lebte er noch. Doch sie spürte, dass irgendetwas mit ihm ganz und gar nicht stimmte.

„Was ist passiert?", fragte Bethany.

„Ich weiß es nicht, er ist einfach zusammengebrochen.", Quinns Stimme zitterte. „Ich habe zwar gewusst, dass er ein paar Verletzungen hat, aber ich dachte doch nicht-... ich habe nicht gesehen-... es ging ihm doch gut."
„Wir brauchen einen Heiler.", unterbrach ihn Bethany. Ihre Stimme klang erstaunlich ruhig, obwohl sich innerlich alles in ihr verkrampft hatte. Bitte, bitte, bitte, nicht auch noch er, dachte sie.

„Bin schon da.", erklang eine Stimme, Bethany erkannte die von Nick. Er hatte eine kleine Tasche in der Hand, in der sich vermutlich alle nützlichen Dinge für einen Notfall befanden. Der Sohn des Apollon machte sich sofort an die Arbeit und untersuchte Percy auf seine Wunden. Bethany beobachtete ihn und jede der Regungen in seinem Gesicht ganz genau, um nichts zu verpassen.

Plötzlich erstarrte Nick. „Scheiße, was ist das denn?", stieß er hervor.

„Was ist was?", gab Bethany zurück.

„Schau dir seine Hand an! So etwas habe ich noch nie gesehen.", murmelte er.

Und Bethany sah auf Percys Hand. Sofort runzelte sie die Stirn. Sie sah aus, als besäße sie fast keine Materie mehr. Sie war durchscheinend, die Holzdielen darunter waren zu erkennen. Ohne zu zögern wollte sie nach ihr greifen, doch da war nichts. Bethany griff einfach durch sie hindurch, als wäre sie gar nicht da. Die Konturen waren zwar zu sehen, aber sonst? Da war nichts mehr.

Bethany sah Percys Arm hinauf. Ab dem Handgelenk war der Unterarm besser zu erkennen und ab dem Ellenbogen sah er wider genauso aus, wie er aussehen sollte. Sie sah wieder zur Hand zurück, um ausschließen zu können, dass es sich davor nur um eine optische Täuschung gehandelt hatte, doch Percys Hand war noch immer fast nicht vorhanden. Was war das?

„Wir müssen ihn auf die Krankenstation bringen.", befahl Nick. „Sofort!"
Seine Stimme klang so herrisch, dass Bethany und Quinn sofort Percy unter den Schultern packten, während Nick selber seine Füße nahm. Zu dritt trugen sie ihn in die Krankenstation und legten ihn schnell auf das Bett neben Ellen.

„Ihr müsst mir helfen, ihm die Rüstung abzunehmen. Wir müssen herausfinden, wo er verletzt ist und woher das mit seiner Hand kommt.", in Nicks Stimme schwang ein seltsamer Unterton mit. Ratlosigkeit?

Bethany beschloss, keine Fragen zu stellen. Er war einer der besten Heiler der Apollon-Hütte, wenn er Percy nicht helfen konnte, dann konnte das niemand. Also fing sie an, die Riemen von seinem Brustpanzer zu lösen, während Quinn die Beinschienen abnahm. Keine zwei Minuten später waren sie fertig, als Bethany ihren Halbbruder erneut ansah, erschrak sie. Sie hatte ihn auf dem Schlachtfeld gesehen und während den Trainingskämpfen beobachtet und immer hatte sie bemerkt, dass sehr viel Potenzial in ihm steckte. Er hatte immer stark und mächtig gewirkt und Bethany hatte gewusst, dass er mit dem richtigen Training sie und auch Louis vom Können her überholen konnte.

Aber nun sah er gar nicht mehr so mächtig aus. Er sah aus, als stünde er kurz vor seinem Tod. So, wie er dalag, mit dem Blut auf der blassen Haut, über und über mit Schmutzt bedeckt, sah er aus, wie jeder andere auch. Und vor allem sah er schwach und besiegt aus. Als hätte er gegen etwas angekämpft und diesen Kampf nun verloren. Ob er überlebte, oder starb, schien nicht mehr in Percys Händen zu liegen.

Bethanys Blick huschte zu seiner Hand, sie hatte das Gefühl, als würde auch sein Arm immer durscheinender werden. Ihr Magen verkrampfte sich. Sie konnte das, was gerade vor sich ging, nicht richtig in Worte fassen.

Nick fing an, fieberhaft zu arbeiten, aber sie konnte an seinem Gesicht sehen, dass er selber nicht richtig wusste, was er hier tat. Plötzlich stand Quinn neben ihr.

„Es sieht aus, als würde er sich auflösen.", meinte er. Sie konnte die Angst aus seiner Stimme heraushören. „Was ist das?"
„Ich weiß es nicht, Quinn.", antwortete Bethany wahrheitsgetreu und ernst. Ihr Bruder wollte einen Schritt nach vorne gehen, doch sie packte ihn am Arm und hielt ihn zurück. „Nicht, lass die Heiler ihre Arbeit machen. Wir würden nur im Weg herumstehen."

Also blieben sie, wo sie waren.

„Ich brauche hier drüben Unterstützung.", forderte Nick plötzlich und stemmte seine Hände in die Hüften. Sofort kam eine Tochter des Apollon zu ihm, Bethany erinnerte sich daran, dass sie Julie hieß.

„Was ist los?", fragte diese. Auch sie sah sich Percygenauer an, zusammen mit Nick beratschlagte sie sich leise. Bethany konnte keineinziges ihrer gemurmelten Worte verstehen, doch es schien eine angeregteDiskussion zu sein, bei der beide immer wieder einen Blick auf Percy warfen,nur, um dann die Stirn zu runzeln, oder den Kopf zu schütteln. 

Bethany kam esvor wie eine kleine Ewigkeit, doch dann einigten sie sich und Julie ging zueinem Schrank auf der anderen Seite des Raumes, um mehrere kleine Döschen zuholen. Nick zog inzwischen drei kleine Fläschchen aus seinem Notfall-Beutelhervor. In dem einen war eine goldene Flüssigkeit zu sehen, Bethany erkanntedie göttliche Speise Nektar. Aber was war in den anderen beiden drinnen?

Die Macht der MeereWo Geschichten leben. Entdecke jetzt