KAPITEL LX

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Annabeth

Der erste Tag, den Annabeth darauf wartete, dass Percy wieder aufwachte, war voll von Hoffnung. Sie war nicht glücklich, oder so, aber seit langem konnte sie wieder eine Zukunft mit Percy zusammen sehen. Ob in dieser Hinsicht noch Krieg herrschte, spielte in diesem Fall keine Rolle. Sie wollte nur mit Percy zusammen sein, egal unter welchen Umständen. Es war, als hätte sie plötzlich einen Silberstreif am Horizont entdeckt.

Apollon hatte Percy zurückgeholt. Es konnte vorbei sein. Und es würde bald soweit sein. Dann wären sie und Percy wiedervereint. Sie musste sich nur noch ein wenig gedulden. Nur noch ein bisschen. Also blieb sie die ganze Zeit in Hütte 3. Da nun keine direkte Gefahr drohte, ließen die Kinder des Apollon sie und Percy auch alleine. Annabeth hielt seine Hand, die inzwischen durchgehend warm war und wartete. Er sah noch immer schrecklich und furchtbar abgemagert aus, aber wenn er erst einmal wach war und wieder aß, dann würde sich das bessern. Davon war Annabeth überzeugt.

Sie unterdrückte die kleine Stimme in ihr, die zuflüsterte, dass auch diese Hoffnung nur eine Illusion war. Doch Annabeth wollte an das Gute glauben, nach all dem Schmerz hatte sie das dringend nötig.

Also verdrängte sie düsteren Gedanken. Stattdessen dachte sie an Percy, wie er sie angrinste, dieses Lächeln, dass sie zuerst gehasst und erst später liebe gelernt hatte. Bald würde sie es wieder sehen.

~

Auch am zweiten Tag war sie noch voller Hoffnung, aber auch die Ungeduld wuchs. Es fiel ihr schwerer, still neben Percy sitzen zu bleiben. Immer wieder ertappte sich Annabeth dabei, wie sie unruhig mit dem Fuß auf und ab wippte, oder ihre Hände knetete und mit den Fingerknöcheln knackste. Normalerweise sah das ihr gar nicht üblich.

Sie fragte sich, wie lange sie noch würde warten müssen, bis sie und Percy endlich wiedervereint wären. Annabeth hatte doch schon so lange gewartet, wie lange wollten die Moiren sie noch zappeln lassen? Oder war das gerade ein Grund, nicht ungeduldig zu sein? Sie hatte schon so lange gewartet, da sollten doch eben die letzten Stunden nicht so schwer zu überstehen sein. Oder?

Aber ihr war auch klar, dass eben diese letzten Stunden das Schlimmste waren. Es war die Zeit, wo man das Ziel schon vor Augen hatte, aber dieses noch außer Reichweite lag. Wie beim Sprint. Das letzte Viertel war immer am Schwierigsten, denn man wollte am liebsten aufgeben. Nicht mehr weiterrennen und sich nicht mehr quälen. Das Einzige, was einen dazu antrieb, weiterzumachen, war die Tatsache, dass man es schon so weit geschafft hatte. Aufgeben auf die letzten Meter war keine Option. Also würde auch Annabeth nicht aufgeben.

Sie blieb neben Percy sitzen, wie auch schon am ersten Tag, denn sie wusste, dass er es genauso gemacht hätte. Er wäre bei ihr geblieben, um auf sie aufzupassen, würde sie nur an seiner Stelle liegen.

Annabeth wollte das Gleiche für ihn tun. Sie blieb sitzen, um sicherzustellen, dass sie da war, wenn er aufwachte.

~

Am dritten Tag war ihre Geduld aufgebraucht. Sie hatte seit zwei Tagen ihre Haare nicht mehr gewaschen und diese hingen nun strähnig und verstrubbelt einfach hinunter, bis sie sie zu einem Pferdeschwanz zusammenband. Annabeth fühlte sich wie ein komplettes Nervenbündel. Sie hatte diese Warterei satt. Denn das Warten bedeutete, dass sie Zeit zum Nachdenken hatte.

Sie überlegte, warum es so lange dauerte, dass Percy aufwachte. Eigentlich sollte es doch schon lange soweit sein, oder? Warum dauerte das so lange?

Die Hoffnung, die Annabeth noch zwei Tage zuvor gespürt hatte, war ebenfalls fast aufgebraucht. Nur noch ein kleiner Teil von ihr klammerte sich daran. Der weitaus größere Teil sagte ihr, dass sie niemals glücklich werden würde.

Ihr Verstand dagegen erinnerte sich immer wieder an ihr Gespräch mit Psyche. Und an das, was sie gesagt hatte.

Hatte die Göttin gewusst, dass das hier auf sie zukommen würde? Hatte Psyche einen kleinen Blick in die Zukunft werfen können und ihr genau hierfür Mut zusprechen wollen? Wenn das stimmte, dann half es nur ein bisschen.

Immer wieder tauchte in Annabeth die Frage auf, ob sich Vertrauen überhaupt noch lohnte. Gleich darauf schämte sie sich. Wann hatte sie angefangen, an ihr und Percy zu zweifeln? Er war die einzige Konstante in ihrem Leben gewesen. Egal, was geschehen war, er war immer für sie da gewesen. Annabeth hatte immer auf ihn zählen können.

Allein dieser Gedanke spaltete sie in zwei Teile. Zum einen spendete er ihr Hoffnung, aber gleichzeitig zeigte er ihr auch, was sie verlieren konnte. Wenn er nicht aufwachte, dann war ihre Liebe, ihr Vertrauter, ihr bester Freund für immer fort. Unwiderruflich.

Diese scheinbar endgültige Erkenntnis versetzte sie in eine Art Schockstarre. Annabeth hatte sich auch schon früher mit diesem Gedanken auseinandergesetzt, als Halbgöttin blieb einem keine andere Wahl. Der Tod war etwas, was einen Halbgott stets begleitete, wie ein dunkler Schatten, der hinter einem lauerte. Aber noch nie war es ihr so nah vorgekommen, wie jetzt. Vielleicht, weil das Leben und der Tod untrennbar waren und immer ein Zusammenhang zwischen ihnen bestand. Sie hatte das Gefühl, dass Percy in diesem Moment auf einem schmalen Balken zwischen zwei verschiedenen Abgründen wandelte. Er durfte nur nicht abstürzen.

„Du schaffst das, Algenhirn. Komm zu mir zurück."

Die Macht der MeereWo Geschichten leben. Entdecke jetzt