KAPITEL LVI

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Annabeth

Mit klopfendem Herzen wachte Annabeth auf. Im ersten Moment wusste sie nicht, was geschehen war, aber dann erinnerte sie sich wieder. Percy, der Kampf, der Dolch. Ihre Verletzung und der Moment, in dem Will befohlen hatte, sie aus Hütte 3 hinaus und auf die Krankenstation zu schaffen. Man hatte ihr irgendeinen Schlaftrunk verabreicht und die Wunden versorgt. Mehr wusste sie nicht mehr, das Gebräu -was auch immer es gewesen war- hatte gewirkt.

Und dann war da immer noch die Begegnung mit Psyche. Natürlich war es nur ein Traum gewesen, aber Annabeth zweifelte nicht im Geringsten daran, dass sie tatsächlich mit der Göttin gesprochen hatte. Sie war noch immer überrascht, dass sie nur zu ihr gekommen war, um ihr Mut zuzusprechen. Das passte irgendwie nicht zu den Göttern.

Aber Psyche hatte recht. Es gab tatsächlich Ähnlichkeiten zwischen ihrer und Annabeths Geschichte. Und noch viel Wichtiger: der Bericht von Psyche hatte in ihr irgendetwas ausgelöst. Sie wusste noch nicht genau, was es war, aber sie war sich sicher, dass die Göttin genau das erreicht hatte, was sie wollte.

Es war nicht so, dass Annabeth plötzlich wieder besonders viel Hoffnung hätte, oder wieder glücklich war. Das war sie nicht. Aber sie hatte das Gefühl, als könnte sie das irgendwann wieder sein, egal, was auch geschah, sie musste nur darauf vertrauen. Und um herauszufinden, ob das Vertrauen berechtigt war, musste sie nur weitermachen.

Wie oft hatte sie in den letzten Wochen darüber nachgedacht, einfach aufzuhören? Tausende Male. Annabeth hatte sich gewünscht, einfach nichts mehr zu fühlen und sich keine Sorgen machen zu müssen. Einfach ganz weit weg zu sein. Es spielte keine Rolle, was das für Konsequenzen mit sich brachte.

Aber das war falsch. Das Gespräch mit Psyche hatte ihr erneut vor Augen geführt, dass es eigentlich nicht in ihrem Blut lag, einfach so aufzugeben. Vielleicht war diese Erkenntnis genau in dem richtigen Moment gekommen.

Annabeth spürte, wie jemand ihre Hand drückte und öffnete die Augen, die sie bis zu diesem Moment geschlossen gehalten hatte. Wie sie erwartet hatte, lag sie auf der Krankenstation, doch es schien ein goldenes Licht durch die Fenster. Anscheinend war es schon Morgen. Neben ihr, auf einem Stuhl, saß Piper und sah sie besorgt an. Als sie sah, dass Annabeth die Augen geöffnet hatte, strahlte sie.

„Du bist wieder wach!", bemerkte sie mit einem Lächeln. Ihre unregelmäßig geschnittenen Haare fielen ihr über die Schultern, als sie sich nach vorne beugte. „Wie geht es dir?"
Annabeth ließ sich einen Augenblick Zeit, bevor sie antwortete. Sie erwartete, dass sie Schmerz verspüren würde, aber sie fühlte sich gut. Da waren kein Brennen und kein Stechen, eher ein warmes Gefühl, dass sich in ihrem ganzen Körper ausgebreitet hatte.

„Mir geht es gut.", erwiderte sie und setzte sich ein wenig auf. Dabei spürte sie, dass sich unter ihrem T-Shirt ein dicker Verband unterhalb von ihrem Rippenbogen befand. Als sie auf ihre Arme sah, waren dort viele Pflaster, die die kleinen Wunden von den vielen Glasscherben bedeckten. Ihre Hände, mit denen sie den seltsamen Dolch berührt hatte, waren rot und schwielig, als hätte sie sie stark verbrannt. Aber sie spürte keinen Schmerz. „Wie geht es Percy?", wollte Annabeth wissen und strich sich durch die wirren Haare. „Haben sie den Prozess schon eingeleitet?"

„Er lebt noch.", murmelte Piper. „Aber sein Arm hat bis zum Ellenbogen keine Materie mehr."

Das war für Annabeth ein Zeichen, dass sie keine Zeit mehr hatte, um sich auszuruhen. Sie setzte sich ganz auf und schwang ihre Beine über die Bettkante, damit sie aufstehen konnte. „Und Apollon? Hat er ihn zurückgeholt?", sie stellte die Frage erneut, aber diesmal eindringlicher.

Pipers Gesichtsausdruck war unbehaglich. „Er weigert sich."
Augenblicklich lief Annabeth ein kalter Schauer über den Rücken. Sie stand auf und zog sich ihre Schuhe an. „Was meinst du damit? Er weigert sich?"

Die Macht der MeereWo Geschichten leben. Entdecke jetzt