12: Schuld

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Castor:

Dieses Video habe ich mir so oft reingezogen, dass ich auswendig mitsprechen könnte.

Ich weiß nicht mal wieso ich es Dan zeige, vor allem, weil ich alles, was mit Lucas zu tun hat, vor anderen weitgehend fernhalte, um mich nicht zu verletzlich zu zeigen, wie ich es bin, aber bei Dan ist irgendetwas anders.

Als das Video endet, sehe ich weiter auf den Fernseher. Meine Hand macht sich selbstständig und sucht nach einem weiteren Video, spult dann zu einer bestimmten Stelle vor.

Die Kamera ist in einem seltsamen Winkel, weil es keine Absicht gewesen war, dass sie das aufnimmt. Wir sind in Lucas' Zimmer, ich sitze auf seinem Schreibtisch und er steht zwischen meinen Beinen, meine Arme liegen auf seinen Schultern und meine Stirn lehnt gegen seine.

Eindringlich sehe ich ihn an, während ich spreche. „Ich weiß, dass du mich niemals absichtlich verletzen wurdest, Lulu. Ich hab dir damals gesagt, dass ich Angst habe, vor allem, jedem, vor der gesamten Welt, vor meinen Gefühlen, vor mir selbst und davor, was ich andern antuen kann. Du hast gesagt, du wirst immer für mich da sein und mich beschützen und das spüre ich immer, wenn ich auch nur an dich denke, dann weiß ich dass ich sicher bin, dass nichts auf dieser Welt mir etwas anhaben kann, solange du da bist. Das bedeutet viel mehr als Liebe für mich. Es bedeutet vertrauen. Und ich vertraue dir, weil ich weiß, dass du mir niemals schaden würdest, dass du nichts tust, um deinen Vorteil daraus zu ziehen und dass du mich liebst ohne eine Gegenleistung zu erwarten."
Als er lächelt und mich dann küsst drücke ich auf stopp und sehe zu Dan.

Er starrt auf den Fernseher, keine Ahnung, was in ihm vorgeht.
„Lucas und ich waren früher beste Freunde, aber unsere Wege haben sich getrennt. Zwei Jahre lang hatten wir absolut nichts miteinander zu tun und es war die schlimmste Zeit meines Lebens. Ich bin zu einem Frack geworden, aber eine Nacht hat einfach alles verändert. Wir haben irgendwie wieder zueinader gefunden und er war derjenige, der mich vom Fallen abgehalten hat. Aber seit er tot ist, habe ich nicht mehr aufgehört zu stürzen. Manchmal glaube ich, ich liege schon ganz unten, aber, wenn ich dann feststelle, dass das noch lange nicht alles war und ich niemals den Boden erreichen werde, der mir wenigstens darin Sicherheit geben kann, dass es jetzt nicht mehr schlimmer werden kann, passiert das mit mir"

Seit vier Jahren war ich zu keinem mehr so ehrlich wie jetzt zu Dan.

Er sieht mich an, sein Blick ist komplett anders als ich ihn kenne. Er sieht mal nicht so aus, als würde er eine Maske tragen. Ich glaube wirklich ihn zu sehen.

„Was wäre, wenn ich dir die Hand hinstrecke, um dich festzuhalten. Würdest du sie ergreifen?", fragt er mich.
Mein Kopf schüttelt sich wie von alleine. „Ich kann nicht."
Er nickt verstehend, lehnt sich dann ebenfalls auf dem Sofa zurück und sieht etwas geschockt aus.

Die ganze Situation ist so unwirklich. Ein fast Fremder sitzt in meiner Wohnung, in die ich bisher nur meine Nachbarin gelassen habe, und ich drücke all meine Gefühle vor ihm aus, etwas, das ich bisher nur bei Lucas gemacht habe.

„Glaubst du dass Lucas dir von irgendwo zuschaut?" Unwillkürlich muss ich lächeln.
Irgendwie wusste ich, dass er nicht die üblichen du-musst-weitermachen-Sätze bringen wurde.

Neugierig sieht Dan mich an.
Ich zucke mit den Schultern. „Der Gedanke, dass er irgendwo auf mich wartet und wir irgendwann wieder zusammen sein können ist wunderschon. Aber ich weiß, dass ich mir da keine Hoffnungen machen sollte." Leicht muss ich lächeln, während ich mich erinnere.
Eigentlich ist es mir unangenehm über Lucas zu reden, weil ich Angst habe zusammen zu brechen, doch bei Dan macht mir das nichts aus. „Ich hab Lucas mal gefragt, was der Himmel wohl ist, wie er sich anfühlt, wie man rein kommt, und lauter solche Sachen. Er meinte, wir können nicht wissen, ob es einen Himmel oder eine Hölle gibt. Genauso wenig wie eine Wiedergeburt, das Jenseits, die ultimative Wahrheit im Glauben."
Ich muss noch mehr lächeln, während sich meine Augen mit Tränen füllen. „Das einzige, was wir mit Sicherheit wissen, ist, dass das Leben jetzt stattfindet genau in diesem Augenblick und dass es vielleicht die einzige Chance ist glücklich zu werden, egal, was danach ist. Er war nie wirklich gläubig oder so. Das einzige woran er geglaubt hat war, dass Gefühle eines Menschen bei seinen Taten ihn ausmachen und er keine Antwort auf das was ist danach braucht weil er mich liebt und das alles ist was zählt"
Ich schniefe einmal und mein Lachen verschwindet. Glaubst
"Aber da hat er auch noch gedacht, wir wurden heiraten und zusammen alt werden. In Wahrheit ist er ein paar Wochen später gestorben und plötzlich hat nichts mehr von dem, was er davor gesagt hat, einen Sinn ergeben." Ich wische mir die Tränen weg, doch es kommen immer neue nach.

Es tut so verdammt weh und das nicht psychisch, nein ich spüre eine körperlichen Schmerz, doch ich kann ihn nicht betäuben weil ich weiß, dass das Lucas' Tod nichts wert machen wurde.
Wenn ich wieder abhängig werde, hätte ich niemals mit Seth Schluss machen müssen und der Psycho hätte Lucas nicht abgeknallt.
Ich hasse ihn so sehr. Er soll im Knast verrecken.

Meine Tränen werden von traurigen zu wütenden.
Doch als ich eine Hand auf meinem Rücken spüre und dann an einen Körper herangezogen werde, weiß ich dass ich einfach nur verzweifelt bin.

Lächerlich vor einem Fremden zu heulen und ihm all diese Dinge zu erzählen. Aber andererseits tut es gut, irgendjemandem zu haben der mich tröstet, sowie es Cody oder mein Vater und all meine anderen Freunde niemals hinbekommen haben.

„Was würdest du Lucas sagen, wenn du ihn noch einmal sehen könntest?", fragt Dan mich.
Ich schluchze. „Dass ich ihn vermisse. Ich vermisse ihn so sehr, dass es mich zerreißt. Ich liebe ihn sogar nach vier Jahren noch, ich will einfach nur..." Ich muss mich unterbrechen, weil ich während dem Reden und Weinen gleichzeitig keine Luft bekomme. „...Ich will einfach nur, dass er mich noch einmal in dem Arm nimmt, nur einmal spüren, wie er mich festhält, seinen Duft riechen, wissen, dass diese Welt für einen Moment stehen bleibt, wenn er mich küsst. Ich will, dass alles in mir explodiert, während es um mich herum komplett still ist und ich will die Gewissheit, dass der ganze Scheiß nicht umsonst war.
Wozu lebe ich denn noch, wenn ich es ohne ihn tun muss? Wieso hätte die scheiß Kugel mich nicht auch treffen können? Direkt ins Herz. Das hat eh mit Lucas: aufgehört zu schlagen und jetzt muss ich dieses tonnenschwere Gewicht mit mir rumtragen und weiß nicht mal wieso. Warum hat er sich vor mich gestellt? Ich hätte in dieser Nacht sterben sollen, nicht er."

Ich heule wie ein kleines Mädchen, doch dass ich jetzt auch noch lache, zeigt, wie labil ich bin. „Ich hab den einzigen Menschen auf dem Gewissen, den ich jemals aufrichtig geliebt habe"

Vertrauen ist auch nur ein Fehler (boyxboy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt